In den Häusern der Barbaren
Da kamen dann Leute vom Staat und nahmen ihr die Kinder weg. Sie wurden in Pflegefamilien gesteckt, wie man das hier nennt.«
Davon hatte Araceli schon gehört, aber das Konzept nie so richtig verstanden – die Kinder waren schließlich nicht krank, wieso sollten sie also gepflegt werden? Krank war doch die Mutter. Oder sollte es heißen, dass diese speziellen Familien besonders viel Wert auf Pflege legten?
»In den Pflegefamilien werden die Kinder getrennt«, fuhr Marisela fort, »also sind das Mädchen und ihr Bruder drei oder vier Jahre an verschiedenen Orten aufgewachsen.«
»Und was ist mit der Mutter?«
»Die ist gestorben.«
»Dios mío.«
»Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte, was sie gehabt hat.«
»Aids?«
»Nein, es war eher so was wie Krebs. Jedenfalls hat meine Freundin Lourdes lange versucht, die Kinder aus den Pflegefamilien rauszuholen. Sie haben auch versucht, den Vater zu finden. Schließlich haben Lourdes’ Schwester und Schwager versucht, sie zu adoptieren, aber das hat natürlich ewig gedauert, weil sie ja in Pflege waren, und wenn sie erst mal in Pflegefamilien leben, ist es total schwer, sie da wieder rauszukriegen.«
Die Geschichte beschäftigte Araceli noch eine ganze Weile, während sie mit Marisela an alten Bungalows vorbeiging, deren Türen und Fenster offen standen und in den letzten Stunden eines vergehenden Sommernachmittags ein bisschen kühle Luft hereinließen. Araceli sah Küchenwände, beleuchtet von nackten Glühbirnen, hörte einen spanischsprachigen Radiosender, der ein Baseballspiel übertrug, murmelnde Stimmen, die von allgemeinem Gelächter unterbrochen wurden, und sie dachte über die Stimmen nach, die sie nicht hören konnte, und welche Geschichten von Verlust und Verrat diese Stimmen wohl zu erzählen hätten. Araceli wusste, sie könnte an jede Tür klopfen, ein oder zwei Fragen stellen, und schon würde sie mitten in einem Melodram über getrennte Familien und zu große Entfernungen stecken, über Kämpfe mit Ämtern und mit den eigenen weniger bekömmlichen Angewohnheiten.
Einer der Bungalows war mit Lichterketten geschmückt, deren Leuchtkraft in der Dämmerung zunahm. Im Garten hinterm Haus klangen Akkordeons, Trompeten und Klarinetten. Sie hatten die eigentliche Geburtstagszeremonie verpasst, denn die hatte pünktlich begonnen – eine Missachtung mexikanischer Konventionen, an die Marisela und Araceli sich noch hielten, auch wenn sie immerhin pünktlich zur Party erschienen waren, die nun folgen sollte. Nachdem sie sich durch ein splitterndes Holztor geschoben hatten, betraten die beiden Frauen einen betonierten Innenhof, der gedrängt voll war mit weiteren Weltraumbrillen tragenden Möchtegern-Astronauten aus Zacateca, die in Cowboystiefeln und Jeans tanzten oder herumstanden, während die Luftschlangen über ihre großen Cowboyhüten streiften.
Araceli folgte Marisela in eine Ecke am Holzzaun, wo die Nichttänzer sich an Plastikbechern festhielten und mit ernstem Blick die Muster der kreisenden Füße auf der Tanzfläche betrachteten, als wollten sie die Bedeutung der Bewegungen entziffern. Drei Frauenpaare tanzten, was auf solchen Partys nicht ungewöhnlich war, denn nordmexikanische Männer waren schüchtern, und als die Musik aufhörte und mit einem neuen Lied wieder einsetzte, fragte Marisela Araceli: »¿Bailamos?« Einen Augenblick später tanzten die beiden auf dem Patio, und Araceli lachte laut, als die Freundin nach ihr griff und sie sich beim Walzer dann gegenseitig kreisen ließen, beide mit den Armen um die Hüften der anderen. »Pass auf«, rief Marisela über die laute Musik in Aracelis Ohr, »wenn wir noch eine Runde so tanzen, können wir uns gleich vor Kerlen nicht mehr retten.« Bald schon blieben mehrere paisanos stehen, ihr Bier in der Hand, und versuchten erfolglos, nicht allzu beeindruckt zu erscheinen vom Anblick der großen Frau mit den kräftigen Beinen, die zu allem Überfluss auch noch in Lurex-Strumpfhosen unter einem Minirock steckten. Wange an Wange tanzte diese Erscheinung mit ihrer kleineren Freundin in der dunkelgelben Bluse.
Als die beiden stehen blieben, trat ein junger Mann mit Baseballcap aus der Menge und grinste mit zusammengekniffenen Augen in Mariselas Sonnenbrille, als wollte er sein Spiegelbild betrachten. Er sagte etwas, das Araceli nicht hören konnte, und als die Musik wieder anfing, zog er Marisela in die Mitte des Hofes. Kurz darauf wurden die beiden von der Menge der kreisenden Körper
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