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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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denen sie gar keine direkte Beziehung mehr hatten. Inzwischen beschwerten sich Marisela und Araceli offen und ohne schlechtes Gewissen, denn ihnen war schmerzlich klar geworden, dass ihre Familien die komplizierten Probleme des Lebens in den angeblich so wohlhabenden USA nicht verstanden. Ihre Verwandten nutzten das Telefon wie eine Sonde, mit der sie erforschten, wie tief die Dollarquelle wohl reichen würde, so als spürten sie – ganz zutreffend –, dass ihre Töchter im fernen Exil das Geld ganz selbstsüchtig für eigene Zwecke abzweigten.
    »Ich werde ihnen fünfzig statt hundert schicken«, sagte Marisela.
    »Sie müssen lernen, ihre Probleme selbst zu lösen«, sagte Araceli – dieser Satz war schon eine Art Refrain ihrer Gespräche geworden.
    »Genau. Von den übrigen fünfzig Dollar werde ich mir noch so einen Hut kaufen wie den, den ich heute Abend aufsetze. Habe ich in einem neuen Laden an der Main Street gefunden. Ich zeig ihn dir.«
    Marisela ging zum Schrank und zog einen aus schwarzem Stroh geflochtenen Cowboyhut hervor, dessen Krempe an beiden Seiten frech nach oben gebogen war, wie die Flügel eines Vogel im Flug. »Qué bonito« , sagte Araceli mit halb zusammengebissenen Zähnen – sie hatten eine unausgesprochene Vereinbarung, dass keine der beiden schlecht über die Partykleidung der anderen redete; Marisela hatte den ländlichen, von Jeans geprägten Geschmack ihres neuen Wohnviertels übernommen, in dem hauptsächlich Menschen aus Zacatecas lebten, während Araceli immer noch stur an den eher poppigen Trends von Mexiko City festhielt.
    »Und hat fast gar nichts gekostet.«
    Ein paar Stunden später, nachdem sie im Wohnzimmer ein wenig ferngesehen und sich dann in Mariselas Zimmer und Bad umgezogen und aufgetakelt hatten, waren sie auf der Maple Street unterwegs zu einer quinceañera -Party. Marisela trug ihren neuen Hut und eine Jeans mit Strasssteinen auf den Gesäßtaschen. Araceli hatte ihr Haar eine ganze Weile gebürstet und trug es nun offen, sodass es ihr über den halben Rücken fiel. Diese Befreiung ihrer Haarpracht hatte eine erstaunliche Wirkung, wenn man sie als Haushälterin Araceli kannte: Die ganze Spannung ihres Arbeitstages fiel von ihr ab; da ihre Schläfen nicht mehr von den straffen Knoten gespannt wurden, hatte ihr Gesicht nun den entspannten Ausdruck einer jungen Frau ohne Verpflichtungen, einer Frau, die weder für Kinder sorgen noch Mahlzeiten zubereiten musste. Sie trug ihre »Samstagabends- chilanga -Uniform«: kurze schwarze Leggings, unten flamingorosa gesäumt, die ihr halb über die Waden reichten, darüber ein schwarzer Minirock mit ein paar Pailletten und ein T -Shirt mit dem aufgedruckten Wort LOVE , ein Friedenszeichen im O . Hauptaccessoires waren drei Halsketten aus erdbeerroten Kunststoffsteinen und passende Armbänder. Es war ein auffälliges Statement ihrer Herkunft. Ähnliche Versionen ihrer »Uniform« hatten früher einige abfällige Kommentare von Marisela provoziert. »Du weißt schon, dass die Leute so einen Aufzug hier lächerlich finden. Wir sind hier nicht in der Condesa.«
    »Genau das, meine Liebe, ist der springende Punkt.«
    Aber heute hielt sich Marisela an ihre Abmachung und sagte auf dem Weg zur Party nichts. Ihre Zähne glänzten umrahmt von rubinrotem Lippenstift: der ausdrucksstärkste Teil ihres Gesichts, da die Augen hinter einer großen, anliegenden Sonnenbrille verborgen waren, rechts und links mit »Diamanten« besetzt, auch das ein typisches Beispiel ihres norteño -Chics. Die Brille sah nach Luft- und Raumfahrt aus, als wollte Marisela die erste Frau aus Zacatecas werden, die sich als Astronautin ins All schießen ließ.
    »Ich kenne die Leute auf dieser Party gar nicht so gut«, sagte sie. »Das Mädchen, das fünfzehn wird, heißt Nicolasa. Sie ist sehr groß und sehr hübsch. Ich kenne ihre Tante, die heißt Lourdes, weil ich mit ihr in der Kleiderfabrik gearbeitet habe.«
    »Ich erinnere mich, von Lourdes hast du mir erzählt.«
    »Ehrlich gesagt, weiß ich ein bisschen chisme über die Familie.« Es war allerdings eher Tragödie als Tratsch, eine Geschichte mit düsteren, Übelkeit erregenden Umrissen, mit psychopathischen Menschenschiebern und einem Vater, der die Familie verließ, nachdem sie in Kalifornien angekommen war. Mit zwei Kindern allein gelassen, hatte sich Nicolasas Mutter durchgeschlagen, bis die Krankheit sie traf. »Sie wurde zu krank zum Arbeiten, sogar zu krank, um sich noch um die Kinder zu kümmern.

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