In den Häusern der Barbaren
Fähigkeiten lag, die er in den Tagen des »Real Programming« erworben hatte. Um ein Spiel wie dieses auf den Markt zu bringen, musste man große Menschengruppen anleiten und inspirieren: Künstler und Technikerteams, die Bewegungsstudien betrieben, ganze Denkfabriken voller Footballexperten, die das Strategiebuch ausarbeiteten. Dieses Spiel war eine große Hollywoodproduktion: Der »Abspann« war irgendwo in den Tiefen der CD verborgen, wo ihn Nerds wie Scott finden konnten, und er war mehrere Minuten lang, wie bei einem Leinwandepos von David Lean.
Ein Mann musste spielen, die Erregung und die Fluchtmöglichkeit sportlicher Bestätigung spüren, selbst wenn er dabei im Sessel saß, und so wandte sich Scott wieder seiner Aufgabe zu: die Mannschaft der San Francisco 49ers zum Sieg gegen das Team aus Pittsburgh zu führen. Der Hochglanzrealismus der grafischen Umsetzung machte die fehlende Eigenbewegung mehr als wett, und als Scott beim dritten Down in Bedrängnis an der eigenen Torlinie einen langen Pass an den Mann brachte, dachte er sich, dass ein virtueller Triumph zwar die flüchtigste denkbare Adrenalinquelle war, ihm den anstehenden Abwasch aber trotzdem etwas erträglicher machen würde. Maureen erwartete, dass Scott die Küche fleckenlos hinterließ, dass er die Stapel fettiger Pfannen und Schüsseln in der Spüle beseitigte, die Arbeitsflächen abwischte, den Boden fegte. Ihre absurde Regel lautete, das Haus müsse »präsentabel« aussehen, wenn Araceli am Montagmorgen durch die Tür trat. Leider wuchs die Unordnung in ihrer Abwesenheit ziemlich rasch, Geschirr sammelte sich in der Spüle, lose Wäsche drang in Flure und Schlafzimmer, Plastiksoldaten nahmen Schlachtaufstellung unterm Esszimmertisch, umgeben von einer Schneelandschaft aus Toastkrümeln.
Maureen hatte beschlossen, das zunehmende Durcheinander aggressiv zu ignorieren. Sie saß immer noch im Wandschrank, zog sich tiefer in Familiennostalgie zurück, erinnerte sich an den zärtlichen, witzigen, leicht zu übersehenen, aber attraktiven Mann, mit dem sie verheiratet war. Damals hatte sie seinen Nachnamen Torres wie ein Straßenschild empfunden, das ihr die Ankunft in einem abgelegenen exotischen Dorf verkündete.
Doch nach so vielen Jahren hatte sich das, was sie für stille Stärke gehalten hatte, als tief verwurzelter Stoizismus entpuppt, als unüberwindbare Distanz zu anderen Menschen. Gleich nach ihrer Hochzeit hatte es so ausgesehen, als könnte sich ihre Hoffnung auf einen Ausflug nach Lateinamerika erfüllen, als ihre Schwiegermutter ihr freundlicherweise ein Fotoalbum der Familie Torres geschenkt hatte, darunter auch einige karge Aufnahmen ihres Schwiegervaters, die ihn als kleinen Jungen und später als kecken jungen Mann zeigten. Sie hatte zwei dieser alten Fotos rahmen lassen und ins Wohnzimmer gestellt, damit ihre Gäste sie sehen konnten, doch es blieben Artefakte aus einem historischen Vakuum, denn bei ihren wenigen Gesprächen mit dem alten Herrn hatte sich dieser geweigert, viel von seinem Leben in der schwarz-weißen, spanischsprachigen Vergangenheit zu erzählen. »Wir hatten als Kinder eine harte Zeit, aber wir haben uns nie beschwert. Und ich werde ganz bestimmt nicht jetzt noch mit dem Gejammer anfangen.« Der Alte hatte sich sein Leben lang bemüht, die Sprache und die Rituale auszulöschen, die für ihn mit der Kurzhacke und den Salatplantagen zusammenhingen, mit der Vergänglichkeit alter Ford-Laster, nächtlicher Ankünfte in Arbeitslagern, bedrohlichen städtischen Gettos. Er verwechselte Amnesie mit Neuerfindung, was selbstverständlich für seinen Sohn nicht ohne Folgen geblieben war, und darum waren die einzigen Spuren von Mexiko, die sich in Maureens Mann noch finden ließ, der leicht rötliche Braunton seiner Haut, sobald er sich zu lang in der Sonne aufhielt, und seine Cäsarennase, die vielleicht indianischer Herkunft war, vielleicht auch nicht. Alles andere an Scott war so bleich und streng wie die Winter in Maine, obwohl Maureen nie gewagt hätte, so etwas laut auszusprechen, vor niemandem, denn als amerikanischer »Weißer« standen ihr solche Urteile nicht zu.
Nachdem ihre Reise durch die Fotoalben es nicht geschafft hatte, sie von der komplizierten Gegenwart abzulenken, legte Maureen die Familienerinnerungen zurück in ihre Schuhkartons und fing an, das Haus aufzuräumen. Beim Aufsammeln der schmutzigen Schlafanzüge und Handtücher wunderte sie sich nicht zum ersten Mal, wie viel Arbeit Araceli
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