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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Jacarandas, manche wild wuchernd und älter als alle Häuser, und ihre Wurzeln warfen Wellen auf den Gehwegen. Manche Rasenflächen waren gut gewässerte, perfekte grüne Quadrate, andere waren von Staubflecken angefressen, auf denen Liegestühle und zerfledderte Sofas standen, und Männergruppen unterhielten sich mit ausladenden Gesten, während hinter ihnen auf den Veranden Frauen und Kinder die Gegend betrachteten wie Seeleute vom Bug eines Schiffes das Meer.
    Der Bus hielt auf der Maple Street, Araceli stieg aus und ging ein paar Blocks zu einem weißen Holzrahmenhaus, in dem Marisela bei einer Familie aus Zacatecas lebte. Sie stieg auf die Veranda, auf der ein abgetretener Kunstrasenteppich lag, öffnete die Fliegengittertür und betrat einen einzigartigen mexikanischen Hort kultureller Widersprüche. Octavio Covarrubias, ein alter Freund von Marisela und der Besitzer des Hauses, saß in einem blauen Lehnsessel, der seinen Oberkörper fast verschluckte. Er las sehr demonstrativ – um seine anständige linke Gesinnung zu zeigen – die Sonntagsausgabe der Tageszeitung La Jornada aus Mexiko City, die er jede Woche per Post geschickt bekam; gierig verschlang er die literarischen und politischen Kommentare einer Reihe prominenter mexikanischer Radikaler. Covarrubias war Zimmermann, halb im Ruhestand und einer von Tausenden spanischsprachigen intellektuellen Autodidakten, die über die südkalifornische Metropole verstreut lebten. Über dem linken Auge hatte er zwei große Muttermale, die er Io und Europa nannte, nach den Monden des Jupiter. Seine Frau und seine halbwüchsige Nachkommenschaft saßen halb aufrecht auf einem Sofa und sogen das Piepen, Klingeln, Sirren und Klatschen eines Fernsehers auf; gezeigt wurde eine Unterhaltungssendung aus Mexiko City, deren redseliger Showmaster wegen seines vulgären Humors denkende Menschen beiderseits der Grenze nervte. Auch das Dekor des Wohnzimmers spiegelte den Kontrast zwischen Hochkultur und Massengeschmack wider: Das Samtbild von niedlich hechelnden Hündchen an der einen Wand schaute auf die gebeugten, würdevollen Häupter von Mutter und Kind auf einem Holzschnitt von David Alfaro Siqueiros direkt gegenüber. Sogar im Bücherregal drängten sich der Ernst von Elena Poniatowska und José Emilio Pacheco an reißerische Kriminalgeschichten wie »Die Geheimnisse des Golf-Kartells« oder »Die wahre Geschichte von Los Zetas «. Araceli sah daran, dass es sich um das Zuhause eines Arbeiters handelte, der sich Mühe gab, zu einem besseren Verständnis seiner Welt zu gelangen, und der deshalb mit den entsprechenden Ideen, Argumenten und Fakten rang.
    Octavio ließ seine Zeitung sinken und sagte: »Hola, Araceli. ¿Qué tal?«
    Araceli erwiderte den Gruß und fragte, ob Marisela da sei.
    »Sie wartet schon auf dich.«
    Araceli umkurvte die Kinder im Wohnzimmer und ging weiter zum letzten Zimmer im hinteren Bereich, in dem Marisela auf dem Bett lag und auf ihr Handy eintippte.
    »Nie ruft mich jemand an«, sagte sie, ohne Araceli anzuschauen. Sie war klein und rundlich und trug ihre Jeans immer eine Nummer zu klein. Araceli mochte Marisela, weil sie direkt und unverblümt war und oft gar nicht merkte, wenn sie jemanden beleidigte, weil sie eine typische chilanga war, in Mexiko City geboren wie Araceli selbst. Sie hatten sich in einem Ramschladen in Santa Ana kennengelernt, zwei Latinas, die denselben Ständer mit Herrenhemden durchwühlten. Wenige Wochen später hatte Marisela sie einer Freundin vorgestellt, die eine Gringa in Laguna Rancho kannte, die wiederum eine andere Gringa namens Maureen Thompson kannte, die eine neue Hausangestellte suchte.
    »Der einzige Anruf heute kam von el viejo «, sagte Marisela, drehte sich auf die Seite und sah ihre Freundin an.
    »Ist dein Bruder immer noch krank?«
    »Nein, dem geht’s besser. Jetzt brauchen sie hundert Dollar, weil sie ein Loch im Dach haben.«
    Beschwerden über ihre Familien und über deren Forderungen waren ursprünglich tabu gewesen. Von einer mexikanischen Tochter im Exil wurde erwartet, dass sie ihre persönlichen Wünsche und Ziele hintanstellte und reichlich Geld für ihre jüngeren Geschwister und Neffen nach Hause überwies. Ihr Geld floss südwärts, Monat für Monat, auch wenn die Jahre vergingen und die Stimmen am anderen Ende der Telefonleitung allmählich älter und ferner klangen. Die US -Löhne der beiden düngten einen Baum von Familiengeschichten, der viele neue und knorrige Äste und Zweige trieb, zu

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