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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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zerrten, hatten Aracelis Tempel der künstlerischen Bildung damals von der Kulturlosigkeit der sie umgebenden Stadt getrennt, von den Bussen und Kleinbussen, die sich in der Nähe sammelten und voranschubsten wie Vieh im Schlachthofpferch. Am Instituto Nacional de Bellas Artes waren die Erstsemester so düster gestimmt, dass sie nichts als die abstrakte Wiedergabe ihrer inneren Dämonen malen konnten oder krasse, detaillierte Studien der überfüllten, erschöpften Stadt. Das ist mein Problem gewesen: Ich war zu ernst. Wenn sie sich damit zufriedengegeben hätte, für ihre Nichten und Neffen Drachen und Elfen zu malen, überlegte Araceli, dann wäre aus ihr keine missgelaunte Migrantin geworden. An den wenigen leichten ersten Tagen an der Kunsthochschule war sie morgens ins Foyer gegangen, hatte die Tafel betrachtet, auf der verschiedene Ausstellungen und Galerieeröffnungen angekündigt wurden, sie hatte die Studenten in ihrer kreativen Qual in den Innenhöfen auf und ab laufen sehen, mit Pinseln und Mappen in der Hand, und sie hatte das Gefühl gehabt, im Zentrum des künstlerischen Universums zu stehen – oder jedenfalls viel dichter am Mittelpunkt der Kreativität, als das in ihrem Zuhause in Nezahualcóyotl der Fall gewesen war.
    An diesen Tagen war Araceli besonders sensibel für die visuelle Welt gewesen, und wenn sie die smoggeschwängerte Metropole durchquerte, suchte ihr Auge ständig nach den Kompositionen, die von der Stadt vorgegeben wurden. In der Metro studierte sie das Kabelgewirr zwischen den Schienen, die verzerrten Gesichter von den Passagieren, die sich durch die Türen zwängten, die Ströme von hastenden Füßen, die sich über die breiten Treppen ergossen, und die improvisierte Geometrie der unterirdischen Gänge, die sich in seltsamen Winkeln trafen. Einer ihrer Dozenten hatte sich ihre Skizzen angeschaut und verkündet: »Sehr instinktiv! Sie würden eine erstklassige Comiczeichnerin abgeben«, und selbst Araceli war klar gewesen, dass das eine Beleidigung war. Dann erzählte ihre Kommilitonin Rafaela Bolaño, dass auch sie zur »Comiczeichnerin« erklärt worden sei, und es war zu einer Art Running Gag zwischen ihnen geworden. »Wir begründen eine neue Bewegung, Rafaela, du und ich. Wir sind die Instinktzeichnerinnen!«
    Am Ende scheiterte Araceli nicht so sehr an den hochnäsigen Dozenten, sondern an der langen Fahrt quer durch die Stadt zur Hochschule und zurück, von Osten nach Westen und wieder nach Osten, und auch an der Liste der erforderlichen Materialien, die am Anfang jedes Semesters ausgegeben wurde. Im Geschäft für Künstlerbedarf setzte der Verkäufer ein ironisches Grinsen auf, als er ihr die geforderten Ölfarben auf den Tresen legte, alle aus England importiert: Chinacridon-Rot, Rohe Umbra, Terra Rosa, Titanweiß, 150 Pesos die Tube. Und dann die Pinsel, deren Borsten an das Fell großer Säugetiere aus der mongolischen Steppe denken ließ; die Sammlung hautfarbener Pastellkreiden aus Deutschland, das gesamte menschliche Spektrum in einer Kiefernholzkiste; und schließlich die mächtigen Lehrbücher, deren Preise ebenso blendend und maßlos waren wie die Hochglanzillustrationen in ihrem Inneren. »Die kommen aus Spanien, die Preise sind also in Euro, und das ist wirklich schlecht für uns Indios hier in Mexiko«, sagte der Verkäufer. Neben den Kosten für die Ausstattung stellte sich natürlich noch die einfache Frage nach dem Geld für eine torta zum Mittag. Dazu die Erschöpfung, die sie auf der einstündigen Heimfahrt mit U -Bahn und Bus übermannte, wenn der Bus sich die letzten fünf Kilometer auf der größten Straße von Nezahualcóyotl dahinquälte, wo sich auf von Müll übersäten Bürgersteigen des Ignacio Zaragoza Boulevard Massen von Fabrikarbeitern vorwärtsschoben. Vor Morgengrauen stand sie auf, um die Hausaufgaben zu erledigen, für die sie am Abend zuvor zu müde gewesen war. »Araceli, wieso machst du dich so kaputt?«, fragte ihre Mutter eines Morgens. »¿Para que?« Die Entscheidung, die Kunsthochschule zu besuchen, erschien ihrer Mutter als ein Akt töchterlichen Verrats, denn die Töchter sollten nun einmal, anders als die wankelmütigen Söhne, die Familie an die erste Stelle setzen. Eine widerspenstige Tochter zählte auf der Skala nachbarschaftlicher Schande so viel wie sechs widerspenstige Söhne. Als Araceli ihr Studium nach einem Jahr aufgab und anfing zu arbeiten, wobei sie die Hälfte ihres Lohns der Familie fürs zukünftige Studium ihres

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