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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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schätzen.« Die Worte waren von einer seltsamen Schicht aus Neid und Trauer überzogen: Es klang absurd, aber Maureens Mutter gönnte Araceli nicht die alltägliche Arbeit in der Nähe ihrer Tochter, die vermeintliche Intimität ihrer Beziehung. Ich könnte auch kochen und putzen , sagte die alte Dame, ohne es auszusprechen, genauso gut, wenn nicht besser als du, Mexikanerin. Ich könnte auch in dem kleinen Haus hinten im Garten wohnen und meine Enkel jeden Tag sehen, aber das lässt meine Tochter natürlich nicht zu.
    Dass Araceli tatsächlich diese gringa acomplejada anrief, um sie um Hilfe zu bitten, zeigte den Grad ihrer momentanen Verzweiflung.
    Araceli tippte die Nummer ein. »Die Vorwahl für diese Nummer hat sich geändert«, teilte eine automatische Ansage mit. ¿Cómo? Sie versuchte es noch einmal und hörte dieselbe Ansage, versuchte es erneut mit der neuen Vorwahl und hörte drei aufsteigende, laute Töne, gefolgt von der Botschaft: »Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist derzeit nicht angemeldet oder nicht vergeben …«
    ¡Caramba!
    Die nächsten auf der Liste waren die Goldman-Arbegasts , die mit den Torres-Thompsons am besten befreundete Familie, auch wenn sie aus irgendeinem Grund den jüngsten Kindergeburtstag versäumt hatten. Ja, diese Goldman-Arbegasts waren vernünftige Leute, die Mutter eine etwas größere, ausgeglichenere Version Maureens, auch so eine Matriarchin mit Zeitplänen und gepflegt gekleideten Kindern.
    »Hallo, dies ist der Anschluss der Familie Goldman-Arbegast«, sagte eine Frauenstimme. »Wir sind im Augenblick nicht da, weil wir in Italien sind.«
    »Nein, in Griechenland!«, rief eine Jungenstimme.
    »Nein, in Paris!«, unterbrach eine Männerstimme.
    »Nein, wir sind in London!«, fiel eine zweite Jungenstimme ein.
    Und dann sagten alle vier im Chor: »Wir sind in Europa! Auf unserer Traumreise!«
    Araceli hängte den Hörer wieder auf die Gabel an der Wand und starrte die beiden verbleibenden Telefonnummern an: Sie gehörten den beiden Ärzten, die Maureen während ihrer Schwangerschaft und Geburt betreut und behandelt hatten und daher für die momentane Krise wohl nicht zuständig waren.
    Wen konnte sie jetzt noch anrufen? Im Augenblick fiel ihr niemand ein. Die Nachbarn kannte sie nicht, wusste weder ihre Namen noch ob sie vertrauenswürdig waren, und sie spürte, es wäre gefährlich, das Geheimnis ihrer Verlassenheit und Isolation mit Fremden zu teilen. Sie hatte keine Telefonnummern irgendwelcher Tanten oder Onkel, die im Torres-Thompson-Universum womöglich existierten: Scott war Einzelkind, und Maureen hatte eine Schwester, die Araceli nie gesehen hatte. Als die Stunden vergingen und weder Scott noch Maureen zurückkehrten, wurde ihre Lage immer seltsamer. Zum ersten Mal hatte Araceli das Gefühl, dass es wirklich ernst werden könnte, dass hier eines oder mehrere familiäre Traumata am Werk waren, so wie in den verschlungenen Erzählsträngen einer telenovela . Die Frau, von deren Haar die Bürste voll war, deren Stimme die Augen der Jungen leuchten ließ, die hätte sie nicht verlassen sollen und dürfen. Araceli erwartete jeden Moment, das Klappen der Sandalen und Maureens weite Schritte auf den Saltillo-Fliesen zu hören, doch bis das nicht geschah, konnte sie mit Brandon und Keenan nirgendwohin. Und es rief auch niemand aus der Welt draußen an, keine Bekannten oder compadres wollten plaudern: Das Telefon klingelte überhaupt sehr selten. Araceli schien es unglaublich, dass eine Familie, dass ein ganzes Haus sich gewissermaßen in eine Insel verwandeln konnte, wie von großen Salzwasserflächen umgeben, und dass die jungen Bewohner und ihre unschuldige Haushälterin wie Schiffbrüchige darauf festsaßen. Die Halbinseln, die diese Insel mit einem Kontinent nerviger Verwandter und neugieriger Nachbarn verbunden hatten, waren schnell und endgültig weggespült worden. Araceli erkannte, dass die tägliche Einsamkeit, die sie in diesem Haus fühlte, das Bedrückende der brummenden Elektrogeräte und der menschenleeren Aussichten aus dem Panoramafenster, nicht nur sie belastete. Diese amerikanische Familie, in deren Haus sie wohnte, war zu diesem Hügel überm Meer gekommen, um fern von der Welt zu leben. Sie sind Ausreißer, genau wie ich. Das war offensichtlich, aber Araceli hatte noch nie eingehender darüber nachgedacht. Unter Mexikanern war die Kälte der norteamericanos legendär, weil sie so viele Landsleute infizierte, die unter ihnen gelebt hatten. Man

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