In den Häusern der Barbaren
Charlotte Harris-Hayasakis Wohnung, die sich im ersten Stock in einem dieser Funklöcher befand, die Mobilfunkingenieure zur Verzweiflung treiben. Er schlief, nachdem er bis weit in die Nacht aufgeblieben war, Charlotte von seinem Streit mit Maureen erzählt hatte und dann auf ihrer Couch liegen geblieben war. Als er kurz vor Mittag aufwachte, war der Akku seines Telefons leer, und er hatte festgestellt, dass er beim gehetzten Aufbruch von zu Hause sein Ladekabel vergessen hatte.
Araceli rief sechsmal hintereinander an, und nach dem letzten Versuch kam Keenan in die Küche und forderte: »Ich bin hungrig! Ich will was zu essen!«
Beim Anblick seiner verärgert zusammengekniffenen Augenbrauen und der jämmerlich nach unten gerichteten Mundwinkel ging es mit Araceli durch. Mutter vermisst, Vater vermisst, Kinder, die die Fütterung erwarten: Das war alles zu viel. Töpfe und Pfannen, Salate und Soßen – das ist meine Arbeit. Ich bin die Frau, die sauber macht. Aber nicht die Mutter.
»Ich bin nicht deine Mutter!«, schrie Araceli und erkannte ihren Fehler sofort, denn Keenan machte auf dem Absatz kehrt und rannte »Mommy! Mommy! Mommy!« schreiend davon. Sein Geschrei erfüllte das Wohnzimmer und wurde schwächer, je weiter er ins Haus hineinlief. Araceli verfolgte ihn, verfluchte sich selbst und die Lage, rief »Keenan, Keenan«, bis sie ihn auf dem Boden des Badezimmers fand, das er sich mit Brandon teilte, die Arme um die Knie geschlungen. Auf dem Duschvorhang tummelten sich Tropenfische in einem Korallenriff, am Spiegel klebten Gummiquallen – eine gekachelte Erweiterung des Zimmers der tausend Wunder. Tränen und Rotz liefen Keenan über Wangen und Lippen. In Aracelis Brust erwachte der sehr schwache mütterlicher Impuls, ihm die Tränen abzuwischen und die Nase zu putzen, doch sie widerstand. Stattdessen nahm sie ein bernsteinfarbenes Stück Seife und sagte: »Keenan, mira .«
Sie hielt die Seife vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und malte Linien auf den Spiegel, mit raschen, weit ausholenden Bewegungen, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, so wie die Clowns im Chapultepec Park, die aus langen Luftballons Hunde oder Schwerter knoteten. In nicht mal einer Minute hatte sie ein Lebewesen aufs Glas gezeichnet. Es schwebte im mehrdimensionalen Raum zwischen Keenan und seinem Spiegelbild, geisterhaft bernsteinfarben, und als er erkannte, was es war, hörte er auf zu weinen.
»Ein Drache«, sagte er.
»Ja. Ein Drache«, sagte Araceli, und ihr Mund öffnete sich zu einem seltenen fröhlichen Zähnefletschen. »Für dich, Keenan.«
Der Junge wischte sich die Tränen vom Gesicht und betrachtete das Phantasietier, das halb im Flug dargestellt war, wie kurz vorm Zustoßen.
»Das ist echt gut«, sagte er.
»Ich mache dir Pfannkuchen«, sagte Araceli. »Pfannkuchen mit Bananen. Magst du doch, ja? Schön?«
Er nickte. Nachdem sie Keenan wieder in die Küche gelotst und ihm Kakao gemacht, nachdem sie die Bananenpfannkuchen zubereitet und den Jungen zusammen mit einem großzügigen Schuss echtem kanadischen Ahornsirup, Grad AA , serviert hatte, nachdem beide die Küche wieder verlassen und sich den Unterhaltungsangeboten des samstäglichen Vormittagsfernsehprogramms hingegeben hatten, war Araceli wieder allein mit der Telefonliste am Kühlschrank.
Unter Scotts Handynummer stand auf der Notrufliste die Nummer Scott Büro , die sie als Nächstes anrief, obwohl Samstag war. »Sie rufen außerhalb unserer Bürozeit an. Wir sind erreichbar von …« Der nächste Eintrag war Mutter , damit war Maureens Mutter gemeint, eine Frau mit Kaskaden von aschgrauem Haar, die dreimal zu Besuch gewesen war, zuletzt kurz nach Samanthas Geburt. Sie war eine reservierte Frau, deren Hauptkommunikationsmittel ein langer, nachdenklich scharfer Blick war, und selten hatte sie mehr als ein paar knappe Worte an Araceli gerichtet. Lediglich beim ersten Besuch der alten Dame in diesem Haus hatte es einen bezeichnenden Moment gegeben, als sie Araceli in der Küche begegnet war und gesagt hatte: »Sie haben wirklich Glück, dass Sie diesen Job bekommen haben. Das wissen Sie doch?« Zu der Zeit war das Haus am Paseo Linda Bonita ein frisch geschaffenes Meisterwerk gewesen, die jungfräulichen Möbel ohne jeden Kinderkratzer, die Wände frisch gestrichen, le petit Regenwald immer noch ein kleiner transplantierter Winkel Brasilien. »Für meine Tochter und meine Enkel zu arbeiten, in diesem wunderbaren Haus. Ich hoffe, Sie wissen das zu
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