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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Diese Worte sprach Araceli so tröstend, wie sie noch nie mit den Jungen gesprochen hatte, und plötzlich und unerwartet durchströmte sie eine Welle des Altruismus, eine Droge, die einem das Rückgrat aufrichtete und einen wachsen ließ. Was kann man zwei verzweifelten Jungen sonst sagen, als dass man sich um sie kümmern wird? »Araceli kümmert sich um euch«, wiederholte sie. »Ich schlafe wieder hier, auf dem Fußboden. ¿Está bien? Etwas später. Wenn ich abgewaschen habe.«
    Am nächsten Morgen stemmte Araceli sich vom Boden neben der Tür zum Zimmer der tausend Wunder hoch, in dem die Jungen noch schliefen. Sie schwitzten in ihren leuchtend bunten Schlafanzügen, mit Superhelden bedruckt: Männer mit schwellenden Muskeln in verschiedenen Flugposen, deren Wagemut Schutz bot gegen solche Übel wie das zeitweilige Verlassenwerden vonseiten der Eltern. Keenan war in Embryonalhaltung eingerollt und umklammerte ein Kissen und einen Stofflöwen. Wenn ich mich heute Abend immer noch um sie kümmern muss, werde ich ihnen sagen, sie sollen in kurzen Hosen ins Bett gehen.
    Wieder ging sie rasch durchs Haus und schaute auch in die Garage, ob Maureens oder Scotts Auto da waren, dann ins Wohnzimmer und zur Galerie der von Teak oder Kirschholz umrahmten Gesichter im Bücherregal. Die Bilder, wurde Araceli klar, waren der einzige Hinweis, mit dem sich dieses Familienchaos entwirren ließ. Am deutlichsten sprachen sie die Porträts des Großvaters an, el viejo Torres, der trocken aus den letzten Jahrzehnten der Schwarz-Weiß-Fotografie herüberlächelte, ein Teenager vor einem Bungalow in Los Angeles, die dunkle Haut in verschiedenen Grautönen wiedergegeben, die Hände in die Hüften gestemmt, ein unwiderstehliches Funkeln im Auge. Dieses Relikt stand hier seit der Zeit, als Araceli für die Torres-Thompsons zu arbeiten begonnen hatte und der alte Herr noch regelmäßig zu Besuch gekommen war, bevor er dann die Worte gesprochen hatte, die zu seiner Verbannung führten. Was hast du gesagt, viejo ? Und wo kann ich dich finden? Araceli erinnerte sich an die genervten Mienen von Scott und Maureen, als sie eines Sonntagnachmittags in der Küche über el viejo Torres gesprochen hatten, und an Gesprächsfetzen: »Was für ein Trottel.« »Ein echter Dinosaurier.«
    Wahrscheinlich hatte Maureen el dinosaurio nur deshalb noch nicht aus der Familiengalerie entfernt, weil er auf dem unteren Regalbrett stand, weit abgeschlagen unterhalb der jüngsten Schulfotos, auf denen die Söhne mit eifrigem Lächeln und Mousse im Haar zu sehen waren, oder den Bildern von Maureen mit der neugeborenen Samantha, Bilder, auf denen sie in ekstatischer Erschöpfung im Krankenbett saß. Maureen im Kreißsaal stand zwischen einem neueren Bild von Samantha mit roter Schleife im dünnen Haar und dem sepiabraunen Schwarz-Weiß-Bild einer Frau mit hochgestecktem Haar in einem riesigen vorhangartigen Kleid, die aus viktorianischer Zeit in die Gegenwart starrte und deren Augenfalten darauf schließen ließen, dass sie Maureens Urgroßmutter war. Daneben wiederum ein aktuelles Foto von Maureens Mutter, in einem Kiefernwald aufgenommen, eine grauhaarige Frau in Kakishorts und Wanderstiefeln, mit schwachem untypischen Lächeln im Gesicht. Das ist die Frauenabteilung: vier weibliche Generationen aus Maureens Familie. Araceli schaute sich die Hochzeitsfotos von Scott und Maureen im Fach darunter an, zu denen auch ein Schnappschuss des Paars gehörte, das sich vor Lachen krümmte, in einer unbeherrschten Heiterkeit, wie man sie in diesem Haushalt seit einiger Zeit nicht mehr erlebt hatte.
    Von all diesen Menschen war der alte Torres der Einzige, der noch lebte und in erreichbarer Entfernung vom Paseo Linda Bonita wohnte. Noch hatten sie ihn nicht ganz aus der Familie beseitigt – er war offenbar ein zäher mexicano . Wenn die Eltern nicht wiederkommen, dann bringe ich sie zu diesem alten Mann. Araceli musste sich für den schlimmsten Fall wappnen. Früher war sie solche Gedanken gewöhnt gewesen, ihre von Natur aus pessimistische Haltung hatte ihr immer gute Dienste erwiesen, während der Busfahrt allein zur Grenze, dann als sie nach Kalifornien gerannt, gewandert, gekrochen war und schließlich in den quälenden und einsamen ersten Wochen in den USA . Viele wichtige Lektionen hatte sie in dieser Zeit gelernt, auch wenn die folgenden vier Jahre in diesem Haus sie im falschen Glauben gewiegt hatte, es gebe doch noch sichere Häfen in dieser Welt, wo Wohlstand und

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