In den Häusern der Barbaren
Erzeuger Schläge mit dem Gürtel eingebracht: »Lass mich ja nie wieder so einschlafen!« Tomás kannte das Alphabet und ging zur Schule, seit er bei Isabel lebte, und glücklicherweise wurde er von einer Lehrerin unterrichtet, die erkannte, wie klug er war, auch wenn er jeweils nur wenige Worte am Stück lesen konnte. Tomás hatte gelernt, sich an großzügige und gebildete Menschen zu halten, die nicht zu dem grausamen und berechnenden Milieu gehörten, das sein Leben beherrschte – eine geduldige Aushilfslehrerin, ein aufmerksamer Lebensmittelverkäufer, der einem armen Jungen gern mal ein oder zwei Orangen oder Bananen gab. Der belesene und beredte englischsprachige Junge vor ihm schien Tomás auch so ein Fall zu sein, darum konzentrierte er sich auf jedes Wort, das Brandon sagte, und redete sich ein, eines Tages werde er selbst gut genug lesen können, um diese Bücher in die Hand zu nehmen. Als Brandon schilderte, wie es mit den Filmfiguren ausgegangen war, steckten die Jungen immer noch gelegentlich den Finger in die Popcornschüssel und fingen an, auf den letzten, ungepoppten, salzigen Körnern herumzukauen.
»Ein Zugunglück? Das ist nicht wahr!«, rief Tomás ungläubig.
Brandon nickte ernst. »Ich war auch überrascht.«
»¡Tomás!« , rief Isabel aus der Küche. »¡Venite para acá!« Durch seinen Ausruf war Isabel in dem Moment auf ihn aufmerksam geworden, als sie und Araceli überlegten, was sie den Jungen noch zu essen machen könnten. Isabel hatte nicht genug Milch, auch andere Lebensmittel fehlten, also rief sie Tomás, damit er rasch zum Markt lief. Sie fand, für solche Erledigungen war der andere Junge immerhin gut, und wenn sie ihn mit den Einkäufen zurückkommen oder über den Abwasch gebeugt oder am Tisch Karotten schneiden sah, dann kam sie sich nicht mehr so dämlich vor, weil sie sich hatte überlisten lassen, sein Vormund zu werden. »Andate a la tienda y comprame leche y un poco de ese queso que le gusta a mi hijo« , befahl sie. »Y pan también. ¡Apurate!«
Isabel drückte ihm zwei Scheine in die Hand, die sie gerade von ihrer mexikanischen Besucherin bekommen hatte. Tomás war ein geschmeidiger Junge mit einer strahlenden, sommerlich gebräunten Haut, wie Kirschholz. Er war etwa eine Handbreit kleiner als Brandon, bewegte sich aber so selbstbewusst und elegant durchs Haus und über die Straße wie ein erwachsener Sportler. Mit einem klugen braunen Auge zwinkerte er Brandon zu und war schon aus der Tür.
Brandon und Keenan sprangen aufs Bett und sahen Tomás durchs Fenster hinterher. Er geht ganz allein auf die Straße! Ohne einen Erwachsenen dabei! Und jetzt rennt er einfach so mitten über den Highway! Der nahe South Broadway sah für Brandon aus wie ein Highway, und als er Tomás über die Fahrspuren sprinten sah, kam er ihm vor wie ein Taucher, der von einer Klippe in ein Brandungsbecken springt. Tomás schlüpfte in eines der grau verputzten Gefängnisse mit der Aufschrift LIQUOR MARKET und kam wenige Minuten später mit einer weißen Plastiktüte in der Rechten und zwei weiteren Tüten in der Linken wieder heraus. Jetzt rannte er zurück über den South Broadway, wegen der schweren Taschen war es eher ein Trippeln, und in weniger als einer Minute stieg er schon wieder die Stufen zum Bungalow hinauf.
»Esta vez no aplastaste el pan« , sagte Isabel oben an der Treppe in so schnellem Spanisch, dass Brandon sie nicht verstand. An ihrem schroffen Ton merkte er jedoch, dass es wohl ein Tadel war oder vielleicht ein weiterer Befehl. Und genau, einen Augenblick später war Tomás in der Küche und stellte die Milchcontainer in den Kühlschrank. Wieder fuhr Isabel ihn auf Spanisch an, und der Junge kletterte auf die Arbeitsplatte der Küche, um eine Kiste aus einem Schrank fast unter der Decke zu holen. Aus diesem Verhalten der beiden schloss Brandon, dass Tomás nicht etwa Isabels Sohn, sondern vielmehr ihr Sklave war.
Sklaverei war auch so eine abscheuliche menschliche Einrichtung, die in den verschiedenen phantastischen und historischen Büchern, die Brandon verschlang, immer wieder beschrieben wurde. Im Vorwort zu Augenzeuge: Der Bürgerkrieg gab es Fotos von den Ketten, die den Sklaven um Hals und Fußknöchel gelegt wurden, es gab Radierungen, die das Auspeitschen von Sklaven zeigten, und diese Bilder verliehen den Geschichten von der Sklaverei in Die Rache der Flussläufer zusätzliches Gewicht. So ein Sklave war Tomás sicher nicht, denn hier im Haus waren keine Ketten
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