In den Klauen des Bösen
seinem Boot allein weitergefahren, und nun können die anderen Männer ihn nicht mehr finden.«
Jenny schaute ihre Mutter besorgt an. »Hast du Angst um ihn?«
»Natürlich nicht, Liebling«, log Barbara, lächelte gezwungen und verbesserte sich. »Oder vielleicht doch ein bißchen.«
»Aber Michael kennt doch das Moor«, sagte Jenny. »Dort ist er doch immer.«
»Ich weiß, Süßes«, seufzte Barbara und trocknete sich die Augen mit dem Kleenex, das ihr Mary Andersen reichte. »Ich bin einfach dumm. Dein Daddy sucht nach ihm. Wahrscheinlich sind längst wieder alle beisammen.« Sie schob Jenny vom Schoß. »Und wenn du jetzt nicht schlafen gehst, willst du morgen früh bestimmt wieder nicht rechtzeitig aufstehen.« Sie entschuldigte sich kurz bei den beiden Polizeibeamten, begleitete Jenny auf Kellys Zimmer und deckte sie liebevoll zu. »Nun schlaf schön«, sagte sie und gab ihr ein Küßchen.
Jenny sah ihre Mutter im Dunkel angestrengt an. »Wird Michael etwas zustoßen?« fragte sie.
»Nein.« Barbara bemühte sich, überzeugt zu klingen. »Er hat bloß den falschen Weg genommen, und Daddy muss ihn finden. Das ist alles.« Sie gab ihr einen letzten Kuß. »Jetzt musst du aber schlafen, Schatz. Einverstanden?«
»Na gut«, antwortete Jenny, drehte sich um und schloss die Augen, doch kaum war die Mutter aus dem Raum, da schlüpfte sie wieder aus dem Bett und kroch zum Treppengeländer, damit sie mithören konnte, was unten gesprochen wurde.
»Ich verstehe nicht, warum Sie nicht bei den Männern im Moor sind.«
»Mrs. Sheffield, zur Zeit sind schon fünf Männer draußen. Aber bei Nacht - das ist wie die berühmte Suche nach einer Nadel im Heuhaufen...«
»Es geht um unsere Kinder...« begann Mary Anderson.
Der Polizeichef unterbrach sie. »Glauben Sie mir: Ich fühle mit Ihnen. Und wir tun alles in unserer Macht Stehende. Bei Sonnenaufgang werden Marty und ich genügend Männer beisammen haben, um jeden Zentimeter des Sumpfgebietes abzusuchen. Die Männer müssen allerdings erst einmal organisiert werden. Ich kann mich nicht gleichzeitig darum kümmern und mich im Moor aufhalten.«
»Ich weiß«, sagte Barbara und versuchte, der Angst, die sie zu überwältigen drohte, zu widerstehen. »Aber halten Sie uns auf dem laufenden.«
»Das verspreche ich Ihnen! Und Sie sollten sich keine unnötigen Sorgen machen. Michael weiß im Moor bestens Bescheid, und Kelly könnte jeden Moment wiederkommen.« Er wandte sich an Mary Anderson. »Falls Kelly so verwirrt ist, wie es den Anschein hat, dann wäre es durchaus denkbar, dass sie sich nicht finden lassen will. Ich habe da eine Vermutung - dass sie sich nämlich gar nicht verirrt hat, sondern genau weiß, wo sie sich befindet, und heimkommen wird, wenn sie sich wieder beruhigt hat.«
»Oder«, erwiderte Mary mit bebender Stimme, »sie glaubt wirklich, dass ihr Vater sie für verrückt hält, und will sich wieder das Leben nehmen. Wenn wir sie doch nur fänden, damit wir ihr sagen könnten, dass ihr überhaupt niemand böse ist!« Mary schüttelte betrübt den Kopf. »Sie würde keinem von uns ein Wort glauben.«
Barbara gelang ein trauriges Lächeln. »Vielleicht haben wir die falschen Leute ausgeschickt«, sagte sie. »Vielleicht hätten Jenny und ich nach ihr suchen gehen sollen.«
Jenny lief lautlos in ihr Zimmer zurück, als ihre Mutter die beiden Polizisten hinausbegleitete, und zog die Tür hinter sich zu. Doch statt ins Bett zu gehen, schlüpfte sie aus dem Pyjama und zog sich an, die Unterwäsche, ohne es im Dunkeln zu merken, verkehrt herum, dann Jeans und T-Shirt. Mit dem Binden der Schnürsenkel hatte sie einige Mühe.
Als sie die Außentür öffnete und ins Freie trat, packte sie die Angst.
Und wenn sie sich nun selber verirrte?
Sie spähte angespannt ins ferne Moor und hätte es sich fast wieder anders überlegt. Doch als sie den Weg längs dem Kanal und die hellen Lichttümpel der Straßenlampen im Abstand von je dreißig Meter sah, machte sie sich Mut - solange sie auf diesem Weg blieb, konnte ihr ja nichts zustoßen. Sie könnte vom Weg aus nach Kelly rufen. Und wenn sie Kelly tatsächlich fand...
Sie wurde plötzlich ganz aufgeregt, und die Angst war völlig dahin, als das Abenteuer begann.
Kelly glaubte in einem Meer von Finsternis zu ertrinken. Es umgab sie von allen Seiten, drückte sie nieder; sie musste dagegen ankämpfen. Ihr war, als stecke sie im Treibsand fest. Dann bemerkte sie ein Schimmern von Licht. Wenn sie das erreichen
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