In den Klauen des Bösen
Licht in langsamer Bewegung, als ob es auf dem Wasser triebe.
Kelly vergaß den Schmerz im Fuß. Sie rannte los. Sie schrie: »Hilfe! Hier bin ich! Helft mir!«
Das Licht kam abrupt zum Stillstand. Es hing unbeweglich im Dunkel.
Kelly achtete nur auf das Licht. Sie hetzte durch die Nacht. Ihre Schuhe waren voller Wasser. Es kümmerte sie nicht. Sie jagte dem Licht entgegen, das sich ihr jetzt zu nähern schien.
Mit dem rechten Fuß stieß sie an einen Stamm, der aus dem seichten Wasser ragte, und wollte schon über ihn wegsteigen, als dieser sich bewegte. Das Wasser schäumte auf. Ein Alligator stieg aus dem Schlamm hoch, sperrte den Schlund auf, sein Schwanz peitschte das Wasser.
Schreiend sprang Kelly zur Seite, als der Alligator nach ihr schnappte. Sie spürte das Zerren, als seine Kiefer das lose Ende ihrer Bluse fassten. Ihre Stimme hob sich zu einem Schrei. Sie riß sich los. Der Stoff gab nach.
Der Alligator fiel ins Wasser zurück, verfolgte sie, stemmte sich auf seine kräftigen Beine, drängte sich durch den Schlamm. Kelly hechelte weiter. Sie stürzte noch einmal, verlor das Gleichgewicht und plumpste ins Wasser.
Der Alligator kam mit aufgerissenem Rachen heran.
Kelly hob zum Schutz gegen den Angriff die Arme. Als der Alligator sich eben auf sie stürzen wollte, knallte ein Schuss.
Der Alligator wurde steif und fiel ins Wasser zurück. Sein Schwanz schlug wie im Krampf weiter.
Aus Kellys Kehle löste sich ein Schrei. Sie stieß mit den Beinen um sich. Sie krallte sich mit den Fingern in den weichen Boden und versuchte, der Reichweite des Tieres zu entkommen.
Hände legten sich um ihre Schultern und zogen sie hoch.
»Der stirbt«, sagte eine Stimme. »Der stirbt. Un’ ich hab’ dich gerett’.«
Kelly schaute hoch. Ein schmales, zusammengekniffenes Gesicht mit bleichen, tiefen Augen unter einem zerbeulten Hut sah im schwachen Schein des Mondes auf sie herab.
Kelly, die sich am Rande der Erschöpfung befand, wurde es plötzlich schwindlig. Die Schwärze der Nacht fing sie auf. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
»Das ist doch Wahnsinn«, murmelte Tim Kitteridge, als Marty Templar das Boot in ein anderes Bayou lenkte. Die Bayous nahmen kein Ende. »Ich hoffe, Sie wissen, wo zum Teufel wir uns befinden. Ich würde hier nie mehr herauskommen.«
Templar lachte. Seine Selbstzufriedenheit dauerte aber nicht lange. Sie suchten nun schon fast zwei Stunden und hatten nicht einmal eine Spur von Kelly Anderson gefunden. Er musterte verstohlen seinen Chef, um sich sofort wieder dem Moor zuzuwenden. »Vielleicht sollten wir den Morgen abwarten«, meinte er. »Wir sind fast wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wenn wir weitersuchen wollen, müssten wir zu Fuß laufen. Die bisher nicht berührten Stellen des Moores sind für unser Boot zu flach.«
Kitteridge nickte. »Habe ich mir schon gedacht. Kehren Sie um. Zur Brücke.« Er hob das Megaphon und gab seinen Plan dem nächsten Boot bekannt, mit dem Auftrag, es an die übrigen weiterzugeben.
Ein Boot nach dem anderen traf an der Brücke ein, bis sie im Kanal eine kleine Flotte bildeten. Die Männer kletterten ans Ufer und drängten sich um den Chef.
»Marty und ich sind der Meinung, wir sollten die Suche bis zum Morgen abbrechen«, erklärte Kitteridge. »Ich sehe die Sache so: Wenn Kelly einen von uns hätte hören können, hätte sie geantwortet. Ich folgere: Wo wir gesucht haben, kann sie nicht sein. Oder sie will nicht gefunden werden.«
Ted bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und pflanzte sich zornig vor dem Polizeichef auf. »Das heißt, Sie geben auf!«
»Das habe ich nicht gesagt, Mr. Anderson!« antwortete Kitteridge geduldig. »Ich habe nur gemeint, dass wir eine verdammt viel größere Chance haben, Ihre Tochter zu finden, wenn wir bei Tageslicht suchen. Jetzt kann man nichts erkennen...«
»Sie wollen also wirklich abziehen?« fragte Ted. »Das ist doch unmöglich! Kelly könnte verletzt sein! Bis morgen früh ist sie vielleicht tot!«
Schweigen senkte sich über die Runde. Keiner wollte den Gedanken aussprechen.
»Glauben denn alle, dass sie schon tot ist?« fragte Ted mit bebender Stimme.
Kitteridge trat unruhig von einem Bein auf das andere und hob hilflos die Hand. »Diese Möglichkeit werden wir berücksichtigen müssen.« Er war nicht bereit, Kellys Vater anzulügen. »Hier im Moor kann einem Menschen selbst bei Tageslicht vieles zustoßen. Nachts...« Seine Stimme wurde unhörbar, doch bevor Ted Anderson erneut das Wort
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