In den Klauen des Bösen
müssen; das Wasser war so seicht gewesen, dass der flache Kiel über das Schlammbett kratzte.
Vor zehn Minuten hatte er einen abgedämpften Schuss gehört; der Schuss musste, wie er sich klarmachte, ziemlich nah abgefeuert worden sein - im Moor war selbst ein Gewehrschuss nur bis zu einer Distanz von ein paar hundert Metern zu hören.
Michael hatte das Boot in die Richtung des Schusses gewendet und an einer Stelle aussteigen müssen, um es über einen Damm zu heben, der zwischen zwei Inseln verlief, doch inzwischen war er wieder auf Kurs, und er horchte angespannt auf ungewöhnliche Geräusche.
Als er vor sich ein Platschen hörte, knipste er die Taschenlampe an. Er ließ den Schein über den gekräuselten Wasserspiegel wandern. Weiter vorn schäumte das Wasser auf vom Schlagen eines Alligators, der sich auf den Rücken drehte - der Schwanz schlug nur mehr schwach.
Michael legte die Stirn in Falten.
Alligatoren hielten sich nachts meist an seichten Stellen fast bedeckt, schlafend, oder auf der Lauer für den Fall, dass ein unvorsichtiger Sumpfvogel zu dicht vorbeiflöge.
Als Michael sich dem großen Reptil bis auf wenige Meter genähert hatte, blieb es nach einem letzten Zucken des Schwanzes still liegen. Im Scheinwerferstrahl entdeckte Michael das Loch im Kopf.
Michael machte eine Bestandsaufnahme: erstens, auf das Reptil war aus nächster Nähe geschossen worden; zweitens, der Schuss hatte das Tier ins Maul getroffen. Das bedeutete, drittens, der Alligator hatte angegriffen.
Michael führte den Lichtstrahl weiter. Da stockte ihm der Atem: Am Rand des Mauls hing ein verschmiertes Stück Tuch.
Kelly.
An dieser Stelle hatte sie sich befunden und war von dem Alligator angegriffen worden.
Hier war aber noch jemand gewesen - derjenige, der den Alligator erschossen hatte.
Von Kelly entdeckte er im Scheinwerferlicht keine Spur.
Wer war der andere Mensch gewesen?
Zum Suchtrupp konnte er nicht gehört haben. Soviel stand fest: Von den Männern hätte sich keiner außer Sichtkontakt mit dem nächsten Boot hinausgetraut.
Es konnte nur eine Sumpfratte gewesen sein.
So musste es gewesen sein: Irgendein Moorbewohner hatte Kelly gefunden.
Aber wer?
War er auf seiner nächtlichen Jagd im Moor zufällig auf Kelly gestoßen?
Dann gewann Michael Klarheit.
Er wandte sich von dem sterbenden Alligator ab. Lärmend sprang der Außenbordmotor an. Während sich der Bug hob, sank der hintere Teil tiefer ins Wasser. Eine Minute später erreichte das Boot die Lagune, schoß hindurch und immer tiefer in die Wildnis hinein.
Michael wusste: Er konnte Kelly nur im Herzen des Moores finden.
18
Jenny Sheffield wachte auf, als vor dem offenen Fenster des Zimmers, in dem sie eingeschlafen war, eine Wagentür zuschlug. Sie wusste nicht gleich, wo sie sich befand, doch als sie sich die Augen rieb und richtig wach wurde, läutete die Glocke an der Haustür. Da kam die Erinnerung: Kelly Andersen hatte sich im Moor verlaufen, und der Vater war sie gemeinsam mit Michael suchen gegangen. Vielleicht kamen sie gerade zurück.
Sie glitt aus dem Bett, trat ans hintere Fenster und hoffte, das Boot im Anlegeplatz zu sehen.
Der Anlegeplatz war jedoch leer, ebenso der Kanal.
Sie lief zum anderen Fenster, von dem man die Einfahrt überblicken konnte. Vor dem Haus stand ein Streifenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern; das Warnlicht blinkte. Aber was wollte die Polizei bei ihnen, wenn der Vater und Michael noch nicht zurück waren?
Jenny, die eine Pyjamajacke von Kelly anhatte, ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig, drückte ein Auge an den schmalen Spalt, konnte jedoch die Stufen vor dem Hauseingang kaum sehen. Aber aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. Dann ein erstickter Schrei.
»Nein!«
Nur das eine Wort. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Jenny, der Schrei gälte ihr - dass sie gesehen worden war und die Tür wieder zumachen sollte. Aber dann hörte sie jemanden weinen. Sie schob die Tür ein wenig weiter auf, damit sie ins Wohnzimmer schauen konnte. In der Nähe des Couchtisches standen zwei Polizisten. Auf der Couch saß ihre Mutter, daneben Kellys Mutter.
Ihre Mutter weinte!
Voller Angst lief Jenny nach unten und kletterte der Mutter auf den Schoß. »Mami! Was ist?«
Barbara wischte sich die Tränen ab und nahm Jenny in den Arm.
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Schatz«, sagte sie und fragte sich sofort, ob sie damit Jenny oder sich selbst beruhigen wollte. »Beim Suchen nach Kelly ist Michael in
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