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In den Klauen des Tigers

In den Klauen des Tigers

Titel: In den Klauen des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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den
Baumkronen.
    Und das am Pfingstsamstag! dachte
Edeltraut ärgerlich. Das fällt unter ruhestörenden Lärm. Dagegen sollte man
Vorgehen.
    Unglaublich! Soll doch der
Bundesgrenzschutz seine Übungen sonstwann abhalten!
    „Da!“ zischte Pechowski. „Rechts neben
der Eiche!“
    Wolfi kniff die Augen zusammen. „Ich
sehe nichts.“
    „Die Büsche haben sich bewegt. Dort
sind die Lümmel. Aber sie pirschen nach rechts. Ich kann’s ganz deutlich an der
Bewegung der Zweige verfolgen. Sie umrunden die Lichtung, um näher an uns
heranzukommen.“
    „Ich werde sie erschrecken“, wisperte
Wolfi. „Das ist noch wirkungsvoller. Ich steige durchs Rückfenster, schlage im
Wald einen Bogen und komme hinter sie. Mit Gebrüll treibe ich sie auf die
Lichtung. Soweit kommt’s noch, daß wir uns von Pennälern (Schüler einer
höheren Schule) verarschen lassen.“
    „Ich finde es toll, daß sie sich soviel
Mühe machen.“ Edeltraut lächelte hinter ihrer Sonnenbrille, die sie jetzt
aufgesetzt hatte.
    „Dann werde ich mal.“
    Wolfi stand auf. Ohne Hast trat er in
die Hütte.
    Hier war es schattig und kühl.
    Er ging in den Schlafraum, stieg über
die Matratzen zur Rückwand und öffnete das Fenster. Es befand sich neben dem
Plumpsklo.
    Er kletterte hinaus, sprang auf den
weichen Boden und huschte zu den Büschen.
    Sie wuchsen hier nicht so dicht wie
vorn an der Lichtung. Er zwängte sich durch, überstieg ein Gewirr von
Brombeer-ranken, trat Blaubeerkraut nieder und spähte nach links. Dort mußten
sie irgendwo sein, die Jungs.
    Sicherlich einige besonders
Unternehmungslustige aus der Mittelstufe, dachte er.
    Aber er hatte keine Vorstellung, wer es
sein könnte.
    Er war jetzt an einer Stelle, wo nur
Bäume standen, man also Überblick hatte. Er wollte noch tiefer in den Wald, um
hinter die Kinder zu kommen. Aber die schienen sich im Eiltempo zu nähern.
    Zwischen Holundersträuchern standen die
Farne hüfthoch. Sie bewegten sich, zitterten, als zwänge sich ein großes Tier
durch. 30, höchstens 40 Meter war das entfernt.
    Wolfi Keup blieb stehen, starrte
dorthin — und in diesem Moment wurde ihm klar: Auch der sportlichste Junge kann
sich unmöglich so rasch auf allen Vieren bewegen. Es mußte tatsächlich ein
Tiger sein!
    Vor den Farnen senkte sich der Boden zu
einer Mulde. Sonnenlicht fiel schräg durch die Wipfel. Ein breiter Strahl war
wie ein Spotlight ( Scheinwerferlicht ) auf wogende Farne gerichtet. Jetzt
teilten sie sich.
    Wolfis Blut stockte. Seine Augen
weiteten sich. Entsetzen schien seinen Herzschlag zu lähmen.
    Ungläubig starrte er den riesenhaften
Tiger an.
    Langsam schob sich die Großkatze
hervor. Glitzernde Augen waren auf ihn gerichtet. Napur hatte ihn geortet,
lange bevor Wolfi die Bewegung im Grünen bemerken konnte.
    Jetzt zögerte der Tiger. Er wußte, daß
er einen Menschen vor sich hatte. Aber es war nicht Tomasino, sein Herr, auch
kein anderer vom Zirkus. Es war ein Zweibeiner mit fremdem Geruch, und Napur
wollte sich klar darüber werden, was von ihm zu erwarten sei. Erhielt er von
dem jetzt das Fressen? Oder war der selber ein Fressen — Beute? Sollte er ihn
anspringen, niederreißen, mit einem einzigen Prankenhieb töten?
    Wolfis Herzschlag setzte wieder ein.
Seine Knie begannen zu zittern. Er ahnte, daß er einen durchdringenden, weithin
wahrnehmbaren Angstgeruch ausströmte — und daß er verloren war.
    Mindestens 50 Meter trennten ihn von
der Hütte. Niemals konnte er das schaffen. Mit drei Sprüngen würde der Tiger
ihn einholen.
    Was wohl in der Zeitung stehen wird,
schoß es ihm durch den Kopf, wenn ich tot bin? Zerfetzt, zermalmt, halb von
einer Bestie verspeist! Im Wald vom Tiger getötet. Grotesk! Ist das Vieh vom
Himmel gefallen? Woher kommt es?
    Hinter Napur schwankten Farne.
    Wolfi begriff. Der Tiger war nervös,
peitschte mit dem Schwanz und duckte sich jetzt. Unverwandt bannten die
grünschillernden Augen das Opfer an seinen Platz.
    Sekunden verstrichen — Ewigkeiten für
den Mann.
    Dann wurde ihm bewußt, daß ihn nur
wenige Schritte von einer mächtigen Sumpfeiche trennten.
    Die untersten Äste befanden sich über
Kopfhöhe, waren aber — unter normalen Umständen — im Sprung zu erreichen.
    Wolfi wußte nicht, ob er die Kraft dazu
hatte. Und ob er sich hochziehen, auf den Ast schwingen und weiter
hinaufklettern konnte. Aber er wußte, daß der Tiger auf ihn zuschnellen würde,
sobald er sich bewegte, sobald er zum Baum rannte.
    Ein Wettlauf, buchstäblich, auf

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