In den Klauen des Tigers
lehnen es sicherlich ab, mich
mitzunehmen, Herr Glockner. Schön! Dann fahre ich eben mit meinem Rad in den
Wald. Und keine Absperrung wird mich daran hindern. Das schwöre ich Ihnen. Wenn
ich mit Ihnen fahre, ist das ziemlich ungefährlich. Dagegen wäre es mit dem Rad
sehr riskant. Aber das ist mir egal. Es geht um Gaby.“
Für einen Moment sahen sie sich an.
Nichts regte sich in Glockners Gesicht.
„Steig ein!“ sagte er dann.
6. Ein Lehrer rennt um sein Leben
Sie hatten tüchtig gefeiert letzte
Nacht. Jetzt am Vormittag waren alle etwas träge. Aber schließlich — Ferien
sind auch für gestreßte Lehrer da. Deshalb würden sie heute eine ruhige Kugel
schieben — und fingen auch gleich damit an.
Assessor Keups Wochenendhaus stand am
Rande einer kleinen Waldlichtung, etwa fünf Kilometer von den Singenden Felsen
entfernt. Ein morastiger Weg, der von der Forststraße abzweigte, führte
hierher.
Das Gebäude war eine Blockhütte, aus
ungeschälten Stämmen gefügt, mit einem Holzschindeldach und sechs Fenstern,
deren Läden jetzt geöffnet waren. Es gab zwei Räume. Den größeren zierten
wohnliche Möbel, allerdings einfachster Bauart. Der andere war zum
Matratzenlager für neun Personen hergerichtet: für fünf junge Lehrer und vier
aparte Kolleginnen.
An der Rückwand der Hütte befand sich
ein Plumpsklo. Nebenan plätscherte quellfrisches Wasser in einen hölzernen
Zuber: das Freiluft-Badezimmer. Der Zulauf erfolgte durch verrostete Rohre von
einer nahen Quelle.
Über die Lichtung zogen
verheißungsvolle Düfte. Auf einem Holzkohlengrill schmorten Bratwürste,
Koteletts, ungeschälte Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln. Das sollte das
Frühstück werden, beziehungsweise das Mittagessen — oder beides zusammen. Denn
bisher hatte noch keiner gegessen, sondern sich mit starkem Kaffee begnügt und —
falls erforderlich — einer Kopfwehtablette.
Die vier Damen trugen Bikinis, ruhten
in Liegestühlen und sonnten sich. Ab und zu wurde eine dreiste Mücke abgewehrt
oder erneut Bräunungsöl aufgetragen. Keine der vier hatte gut geschlafen. Das
Matratzenlager war ungewohnt.
Edeltraut Merkat, einer blonden
Biologie-Lehrerin von 29 Jahren, tat der Rücken weh. Schöne Erholung! dachte
sie. In einer ländlichen Pension hätte ich’s jetzt bequemer. Aber was soll’s!
Wir sind eine nette Runde.
„Wolfi!“ rief ihre Kollegin Silke
Drewes. „Da brennt was an. Mußt die Schnitzel wenden.“
„Wird besorgt!“ antwortete Wolfgang
Keup. Er trat zum Grill und sah, daß ein Stückchen Fleisch in die Glut gefallen
und schon völlig verkohlt war. Alles übrige war noch lange nicht fertig.
Die fünf Lehrer saßen rund um einen
Gartentisch und drei von ihnen spielten Skat, zwei kiebitzten. Das schien zu
faszinieren, denn sie hatten keinen Blick übrig für die Bikini-Schönheiten und
die Natur ringsum.
„Du gibst“, sagte Wolfi und schob
Werner Pechowski die Karten zu.
„Schöne Kavaliere!“ sagte Silke leise.
„Sind eben Kollegen!“ Edeltraut
richtete sich auf. „Ich glaube, ich kriegeeinen Sonnenbrand.“
„Sei bloß vorsichtig!“ warnte Martha,
ohne die Augen zu öffnen.
„Bloß bin ich fast“, lachte Edeltraut.
Jutta, die vierte, atmete tief, war
offenbar eingeschlafen. Sonnenbrand brauchte sie nicht zu befürchten. Sie hatte
pechwarzes Haar und braune, pigmentreiche Haut.
Edeltraut erhob sich. „Ich geh’ mal zur
Quelle und plansche.“
Niemand antwortete. Niemand kam mit.
Edeltraut spürte leichte Kopfschmerzen.
Offenbar hatte sie schon zu lange in der Sonne gelegen.
Als sie in den Schatten unter den
Bäumen trat, wurde ihr taumelig zu Mute. Aber nur für einen Moment. Sie
zwinkerte, weil die Augen etwas tränten, ging über weiches Moos, durch
raschelndes Laub und über schilfrige Gräser. Bei der Quelle war der Boden
feucht und kühl.
Sie stellte sich in das nur wadentiefe
Wasser und wusch sich das Gesicht.
Im Wald war Vogelkonzert. Ein Specht
hämmerte ganz in der Nähe. Insekten summten.
Als Edeltraut sich aufrichtete, hatte
sie Wasser in den Augen — als wäre sie beim Schwimmen getaucht und jetzt an die
Oberfläche gestoßen.
Quellwasser hing perlig in ihren
rostfarbenen Wimpern. Für einen Moment sah sie alles verschleiert — auch die
dichten, hohen Farne unter den Bäumen, etwa 20 Meter entfernt.
An einer Stelle hatte das grüne
Blattwerk sich geteilt. Reglos schwebte dort der mächtige Schädel eines Tigers:
braungelb mit dunklen Streifen. Grüne Augen
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