In den Ruinen von Paris
« »Wieviel Zeit?« wollte Barler wissen. »Erinnern Sie sich an meine Antwort an Jean, als er fragte, wie lange er wahrscheinlich gebraucht hätte, den Panzer zu knacken?« fragte Charity statt einer direkten Antwort. »Sie meinen ... « »Ich meine, daß es auf jeden Fall sehr schwierig sein dürfte, mit dem, was wir hier gefunden haben, wirklich etwas anzufangen.« Sie seufzte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie jetzt enttäusche, aber das alles hier ... « Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es besser so.« »Wir haben ein paar Leute, die sich mit Computern auskennen«, bemerkte Barler nachdenklich. »Und wenn?« Charity zuckte erneut mit den Achseln und wandte sich von dem Pult ab. »Glauben Sie mir, Barler, es würde Ihnen nicht sehr viel nutzen. Sie kommen ja nicht einmal aus dieser Stadt heraus.« »Das stimmt«, antwortete Barler. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesicht vor Zorn. »Weil wir wehrlos sind. Weil wir nur leben, solange sie es uns gestatten. Sollen wir damit gegen sie kämpfen?« Er schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf die Pistolentasche an seinem Gürtel. »Wenn wir mehr von diesen Panzern hätten, den Jean auf der Insel gefunden hat, oder ein paar vernünftige Geschütze ... « Charity verbiß sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie verstand Barlers Reaktion; aber sie stimmte sie eigentlich nur traurig. Mit Waffen war der Krieg gegen die Invasoren nicht zu gewinnen. »Und es geht nicht nur darum«, fuhr Barler fort. »Ich weiß, was die NATO war. Die Militärs haben nicht nur Waffen hinterlassen. Es gibt so viel, was wir brauchen, so viel, was wir lernen könnten - und alles ist hier.« »Ja«, seufzte Charity. »Ich weiß nur nicht, was wir damit anfangen sollen.« »Wir haben Zeit«, widersprach Barler. »Sie und Ihre Freunde können bei uns bleiben. Sie können uns helfen.« »Ich fürchte, genau das können wir nicht«, antwortete Charity matt. »Wir wären nur eine Gefahr für Sie. Früher oder später werden sie herausbekommen, wo wir sind, und dann werden sie kommen und nach uns suchen.« »Früher oder später vielleicht«, antwortete Barler, »aber bis es soweit ist, können Sie uns helfen. Und wir Ihnen.« Er zögerte einen Moment, dann fragte er: »Können Sie diese Mikrowellen-Barriere abschalten?« Charity nickte. »Dann tun Sie es bitte«, sagte Barler. »Ich werde ein paar Leute hierher schicken, die sich mit diesen Geräten auskennen. Wenn Sie wollen«, fügte er hinzu, »warte ich damit auch, bis Sie die Stadt verlassen haben.« »Warum nicht?« Charity war nicht sehr wohl bei dem Gedanken. Ohne einen. Grund dafür nennen zu können, hatte sie das Gefühl, daß es ein Fehler gewesen war, diese Station aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Plötzlich wollte sie gehen. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie auch nur noch eine einzige Minute in diesem Saal blieb. Mit einem Ruck wandte sie sich gänzlich um und schritt wieder zum Ausgang, blieb dann aber noch einmal stehen, als ihr Blick den mumifizierten Leichnam eines Marinesoldaten streifte. Sie zögerte und bückte sich dann, um die Waffe des Toten an sich zu nehmen. Es war ein schwerer Gamma-Laser. Sie überprüfte seine Ladung, blickte aufmerksam durch die Zieloptik und hängte sich die Waffe dann über die Schulter. Barler sah sie fragend an. »Wollen Sie den Ameisen jetzt ganz allein den Krieg erklären?« Charity schwieg. Sie wußte die Antwort nicht. »Sie wollten mir die Mauer zeigen«, sagte sie knapp.
Kapitel 9
Kyle war fünf Jahre alt gewesen, als er die Trainingskuppel das erste Mal betrat. Vieles hatte sich verändert seit jener schrecklichen Nacht, in der man ihm seine Mutter und seine Welt weggenommen hatte. Manchmal erinnerte er sich noch, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der der Himmel über ihm blau statt grün gewesen war und in der sich nicht die starre Chitinmaske einer Riesenameise, sondern ein weiches Gesicht über ihn beugte, wenn er vor Hunger oder Müdigkeit schrie. Aber die Erinnerungen - und die Träume, die ihn anfangs geplagt hatten - kamen immer seltener. Er begann zu vergessen, seine Erinnerungen wurden ausgelöscht. Und es geschah jetzt nur noch ganz selten, daß er plötzlich das Gefühl hatte, nicht hierher zu gehören. Dafür begann er so schnell und spielerisch zu lernen, wie nur Kinder lernen konnten. Er begriff nicht wirklich, was er lernte, aber das Wissen wurde in seinem Gedächtnis abgespeichert, bereit für den Tag,
Weitere Kostenlose Bücher