In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Irgendwann wird er nicht mehr sein und zu jenem diffusen Zustand zurückkehren, dem er entstammt.«
»Das ist sehr verwirrend«, wandte ich ein. »So gab es keine Engel vor dem Menschen? Sie sind nicht aus der Ewigkeit gemacht?«
»Doch, sie sind höhere Wesen, geordnet in göttlicher Hierarchie, die schon lange hier war, bevor die Menschheit entstand. Doch die Menschen gaben ihnen durch ihre Existenz Ausprägung und Komplexität.«
»Und Bedeutung...?«
»Ho-ho!« rief Schorm aus. »Fangen Sie bloß kein Gespräch über das Anthropische Prinzip mit mir an.«
»Und manche Engel betreten die Menschen bei ihrer Geburt?«
»Sie begleiten die Seele ins Diesseits. Das nennt man den natalen Pfad .«
Er hielt kurz inne und sah mich an.
»So richtig viel Ahnung haben Sie ja noch nicht«, bemerkte er ernst. »Ich wüsste gerne, was Michael dazu bewog, Sie auf eine Mission zu schicken.«
»Vermutlich Mitleid«, erwiderte ich und straffte defensiv die Arme auf meiner Brust. Ich fragte mich, was das mit der Mission bedeuten sollte.
»Sie müssen verstehen, dass Engel nur auf zwei Arten diese Welt betreten können. In Form von sogenannten Erscheinungen, was nicht ungefährlich ist für jene Menschen, die dem Engel in seiner wirklichen Ausprägung zu nahe kommen...«
»Rilke«, unterbrach ich ihn. So besonders klar war mir die Bedeutung nicht, doch ich hatte das bei Manakel abgeschaut und wollte sehen, wie es funktioniert.
»Ja, genau«, stimmte mir Schorm zu. »Oder über die Manifestation in einem Körper. Doch der Engel muss dazu den natalen Pfad der Seelen wandern, um so in das Leben zu gelangen. Er muss durch die natürliche Geburt diese Welt betreten. Die Dämonen haben hier einen klaren Vorteil: sie können durch entsprechende Riten in erwachsene Menschen inkarnieren. Da spricht man dann in vielen Kulturkreisen von Besessenheit . Beim Verlassen des Körpers ist es dann genau umgekehrt. Engel können einen Leib sofort verlassen — nur der Wunsch dazu genügt. Doch der Wirt stirbt dann, da weder der Körper, noch die Seele ohne den Geistbezug im Diesseits bestehen können. Menschlicher Geist, göttlicher Geist. Hauptsache Geist. Der Dämon dagegen kann nur durch komplizierte Rituale hinausgetrieben werden — ob er es nun will oder nicht.«
»Oh mein Gott«, sagte ich.
»Sie sagen es. Die Schöpfung als Dualität.«
»Nein, ich meine...« Ich rang nach Worten. »Ich meine, all die Geschichten, die man hört, über mittelalterliche Inquisitoren, die bei unschuldigen Menschen Besessenheit oder einen Bund mit dem Teufel diagnostizierten.«
»Da wird wohl manchmal was dran gewesen sein«, stimmte er mir zu.
»Und die Engel haben das gutgeheißen? Folter und Verbrennung?«
Schorm seufzte.
»Das ist lange her. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Engel sich nie auf die ideologische Spitzfindigkeit der Menschen einlassen. Wir können doch nicht erwarten, dass sie, die Boten Gottes, unsere Motive teilen, nicht wahr?«
Ich wusste nicht so recht, was er damit meinte und bohrte nicht weiter nach. Schorm nahm konzentriert die Ausfahrt von der Autobahn. Zu unserer Linken tauchten die Lichter von Worms auf, während auf der anderen Seite, im Westen, das späte Sonnenlicht nur noch einen undeutlichen, roten Streifen hinterließ.
Seine Wohnung war nicht minder exzentrisch, als sein Erscheinungsbild. Es gab einen einzigen Schrank, der offensichtlich der Aufbewahrung von Kleidung diente. Alles andere wurde von Bücher- und Zeitschriftenstapeln dominiert. Ich nahm einige Bände in die Hand und stellte fest, dass es hier schwierig sein würde, etwas unterhaltsames zu finden. Ich überflog die Buchrücken: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes von Dietrich von Hildebrand, Ethik von Spinoza und sogar ein Buch mit dem Titel The Physics of Angels von Matthew Fox und Rupert Sheldrake. Theophil Schorm war nicht nur ein Hüter der Ambrosia, er war auch der Beobachter unserer Welt und ein Wächter über unsere Einstellung gegenüber jenen Strömungen, Werten und Ideen, die mit den Engeln zu tun hatten. Er sammelte Wissen und erwog den Stand der Menschheit — vielleicht so, wie es vor über zweitausend Jahren die Essener taten.
»Hier ist der Tee«, holte mich seine Stimme wieder ins Hier und Jetzt.
Ich nahm die Tasse mit abgeblättertem Lack entgegen. Es war ein Souvenir aus der Vatikanstadt, gekauft vermutlich in jener Zeit, als man in Rom Ein Herz und eine Krone drehte.
»Wie ist denn Ihre Position gegenüber der
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