In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
einheitliches Muster, in dem Moral, Gerechtigkeit und Ethik irgendeine Rolle spielen. Ich meine, die meisten großen Nazi-Bonzen sind davongekommen, so wie beinahe alle großen Schurken davonkommen. So viele Menschen können jahrelang ein Kind quälen, ihre Nachbarn terrorisieren oder ihre Lebenspartner belügen - es kommt niemals ein göttlicher Blitz vom Himmel, der mit ihnen abrechnet. Nicht mal ein warnender Autounfall auf dem Weg zur Arbeit. Nichts. Und nicht wenige haben ihr Leben verwirkt, nur weil sie ein Stück Brot gestohlen haben oder jemanden auf die falsche Art ansehen. Daraus ließe sich der recht logisch anmutende Gedanke folgern, dass nichts Übersinnliches in unseren Handlungen mitschwingt, das auf eine göttliche Gerechtigkeit schließen lässt.
Das Gegenkonzept dazu heißt Zufall. Wenn Sie sich darauf einstimmen, wird es noch wilder. Denn im Gegenteil zu „Karma“ und „Göttlicher Gerechtigkeit“ ist der Zufall ein moderner, anerkannter Faktor in unserer modernen, anerkannten Kultur. Es war eigentlich zu erwarten, dass durch das Dahinsiechen der großen katholischen Mutter Kirche ein Ersatz für die Absolution gefunden werden musste. Und was gestern die Absolution war, ist vielleicht heute der Zufall. Der Zufall ist die Milchhaut der Welt der Wahrscheinlichkeiten und Statistiken. Wenn Sie beschließen ein Verbrechen zu begehen, lohnt es sich durchaus, sich vorher mit entsprechenden Erhebungen und Zahlen zu beschäftigen. Und sollte Sie all das zu sehr anstrengen, dann belassen sie es bei der einfachsten Rechnung: ob ihr Verbrechen gelingen wird, steht fünfzig-fünfzig. Ob Sie dafür bestraft werden, steht fünfzig-fünfzig. Das sind doch eigentlich gute Aussichten.
Es ist dieses seltsame, diffuse Gefühl... Sie stehlen. Sie stehlen Druckerpapier aus dem Schrank unter dem Kopiergerät in der Firma, in der Sie arbeiten. Sie haben durchaus das Gefühl, dass das nicht die rechteste aller Taten ist, aber da ist ja der Zufall, der eben dafür sorgt, dass Sie zu wenig Geld haben und Ihr Vorgesetzter zu viel. Oder wälzen Sie sich tagelang schweißgebadet im Bett, zerfressen von der Versuchung, bei Ihrer Nichte oder Tochter unter die Bettdecke zu klettern? Und ist es da nicht wieder der Zufall, der aus Ihnen eine marginalisierte Person macht und Triebe in sie hinein säte, die stärker sind als jegliches Wertegefühl? Ist es nicht beruhigend, zu wissen, dass es in Wirklichkeit , in allerletzter Instanz nicht Ihre Schuld ist? Es ist Zufall. Sie sind der Pechvogel, der pädophil ist, der arm auf die Welt kam, der nicht so clever geboren wurde, wie die anderen. Es könnte jeden treffen. Wie der Autounfall letzten Sonntag, von dem Sie rasend weggefahren sind, in der Fünfzig-Fünfzig-Hoffnung, dass sich niemand Ihr Autokennzeichen aufgeschrieben hat.
Sie denken sicherlich, dass ich übertreibe und die Dinge vereinfache. Aber das ist meine Ära. Mein Zeitalter. Ich sehe mich nur um und beschreibe was ich mit offenen Augen sehe. Rauchen Sie sich Krebs an. Wenn es dann beginnt, verklagen Sie die Zigarettenhersteller, dass Sie schon als Jugendlicher von ihrer Werbung verführt wurden. Oder versuchen Sie das selbe mit McDonald’s, falls Sie ein paar Pfunde zu viel haben. Wenn Sie eben rein zufällig einen Vater haben, der Alkoholiker ist, so ist es ja nicht erstaunlich, dass Sie selbst dem König Alkohol verfallen. Honni soit qui mal y pense.
In einer undurchsichtigen Welt wird die Undurchsichtigkeit zu Ihrer Absolution. Im Alltag haben wir zwar ein kitschiges Gefühl für Zusammenhänge und fürchten noch immer, dass uns unsere Ahnen nachts als Geister erscheinen, um uns für all die Unzucht zu strafen. Fallen Sadomasochisten alle unerwartet Autounfällen zum Opfer? Liegen sie öfter als andere Menschen in Krankenhäusern? Nichts wies darauf hin. Wenn aber jede Moralvorstellung keine nachweisbaren Konsequenzen aus höheren Sphären nach sich zieht, weshalb beschleicht uns Menschen dann noch immer dieses unheimliche, schuldige Gefühl?
Die erste Reflexion in dem zerbrochenen Spiegel der Wahrheit, der ich hier begegnete, war also die Erkenntnis, dass das Konzept von „Gut und Böse“ jener Mörtel ist, der all die Lügengebäude zusammenhält, die man um uns herum seit dem Anbeginn der Zeit errichtet. Es gibt keinen Gräuel, keine Unverschämtheit einer Regierung und keinen Betrug, der nicht komplett auf der Idee basiert, dass jemand, oder etwas das „Gute“ repräsentiert, während da drüben, am
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