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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ales Pickar
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leben würde. Wird man es ihm überhaupt erlauben? Würde man diese Person nicht lieber an ein Kreuz nageln? Inmitten von Bayern? Eine Person, die sich weigern würde, Geld anzurühren und Zinsgeschäfte zu tätigen. Eine Person, die sich weigern würde, eine Waffe anzufassen und Autos zu fahren. Würde sie auf der Straße verhungern, weil sie nicht bereit war, ihre Seele zu verkaufen? Ich spreche nicht von einer Person, die mit all diesem Verweigern irgendwelche politischen Zeichen setzen möchte, sondern von einem Menschen, der es einfach nur nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbaren kann, so zu leben, wie wir leben. Wehe dem Menschen, der kein Heuchelei- und Wegschau-Gen in sich trägt.
    Paul Lichtmann sagt: Die meisten Menschen sind zufrieden, wenn sie dreimal am Tag Fleisch essen, genug Geld haben, um sich nutzlose Produkte aus Plastik zu kaufen, und wenn sie sich am Lärm eines Verbrennungsmotors berauschen können. Der kleine, beratende Arzt in meinen Kopf mag mal vor 20.000 Jahren eine gute Erfindung gewesen sein, doch das war bevor wir eine Welt aus Versicherungspolicen, Abschreibungsmodellen und Aktien entworfen haben. In dieser Welt, die systematisch zwischen Wölfen, Hyänen und Schakalen aufgeteilt wird, wirkt das gute Gewissen wie ein Jugendstilgebäude inmitten einer Erdölraffinerie.
    Es heißt: wir gestalten den Markt. Und der Markt regelt alles.
    Aber vielleicht regelt der Markt nichts. Vielleicht regelt nur der Tod alles.
    Unter diesem Gesichtspunkt erschien mir mein Handeln durchaus reizvoll. Denn es fühlte sich als etwas vollkommen neues an. Als wäre ich auf eine Party gekommen, auf der nur Leute wie Dionysos, Marquis de Sade und Aleister Crowley rumhängen. Ich entfremdete mich der bekannten Welt und tauchte in ein eigenes Universum ein, das zum Teil meine Regeln befolgte, doch zum großen Teil aus neuen, vollkommen unbekannten Spielregeln bestand. Ich hatte mein Geld lieber im Gefrierfach, als auf einer Bank.
    »Deine Welt ist einfach nicht meine Welt«, sagte ich, während ich meinen Arm um sie legte. Langsam traten wir den Weg zur Hauptstraße an. »Meine Motive waren, dich besser zu verstehen. Aber ich habe nie aufgehört, mich dabei etwas unwohl zu fühlen. Doch wenn ich mit dir zusammen bin, vergesse ich die Welt um uns sofort.«
    »Ist das wahr?« fragte sie leise. »Hast du das alles nur mitgemacht, um mich besser zu verstehen?«
    Es war die Wahrheit. Ein Teil der Wahrheit. Nicht genau das Kernstück, doch durchaus wahr genug. Ich war ein Reisender. Nicht im wörtlichen Sinne. Es waren Inseln, die ich betrat und Inseln, die ich wieder verlassen musste. Und ganz gleich, wie froh mich die Ureinwohner begrüßten, wie sehr sie Girlanden aus Blumen um meinen Hals legten — ich wusste stets, dass ich niemals einer von ihnen werden konnte. Ich weiß schon am Tag meiner Ankunft, dass ich eines Tages weiter ziehen muss. Und Evelyn? Sie war keine Reisende, so rastlos sie auch sein mochte. Sie war eine Insel. Und ihre Augen, ihre Gedanken und ihre lockende Stimme glichen den Ureinwohnern.
    »Du hast jetzt Lederklamotten für 3800 Mark im Schrank«, bemerkte Evelyn kritisch und fröstelte.
    »Da hinten gibt es Taxis«, sage ich und deutete auf die Kreuzung.
    In der Kabine des Wagens überwältigte uns eine angenehme, ermüdende Wärme.
    Evelyn vergrub wortlos ihr Gesicht in meinen Mantel.
    »Lass uns zu mir fahren und Sushi bestellen«, schlug ich aufmunternd vor. »Ich hätte Lust auf Tamago und Sake Maki!«
    Doch ich kannte bereits die Antwort.
    Das größte Klischee unserer Zivilisation, immer unerträglicher mit jeder neuen Wiederholung, stand hier unverrückbar im Raum: Frauen sind unbegreifliche Wesen, rätselhaft und undurchsichtig. Es lag natürlich auf der Hand, dass ich als Mann einfach nicht genügend Begriffsvermögen besaß, um die scheinbare Unberechenbarkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen zu verstehen, und dass nicht jedes Problem mit einer schnellen Nummer, einer Runde Sushi oder irgendeiner anderen Ablenkung aus der Welt geschafft werden kann. Natürlich besteht auch die Interpretationsmöglichkeit, dass Frauen einfach nur willkürliche Nervenbündel sind, mit Reaktionsmustern, mit den nicht einmal die Quantenmechanik klarkommt. Aber auch in diesem Fall besaß ich eindeutig nicht genug Begriffsvermögen, um das zu erkennen.
    Sie küsste mich kurz und beinahe beiläufig, bevor sie aus dem Taxi rutschte. Gedankenlos sah ich in den Rückspiegel des Taxifahrers und meine Augen

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