In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
treffen seine. Es ist derselbe Fahrer, wie am ersten Tag, als ich Evelyn mitnahm.
»Ich weiß, an der Reeperbahn«, sagte er und fuhr grinsend los.
2.07 Riss in der Zeit
Und dann sah ich sie.
Tina wohnte direkt neben mir und war mir doch all die Monate nie begegnet. Nachdem ich den Taxifahrer bezahlt hatte, traf ich sie unten am Hauseingang. Ich ließ ihr den Vortritt und rechnete damit, dass sie früher oder später in einem der Stockwerke abbiegen und zu ihrer Wohnung gehen würde. Doch sie marschierte mit mir bis in die vierte Etage, und ich konnte die ganze Zeit auf ihren aphroditischen Hintern starren, der in einer blauen Sporthose steckte. Sie blieb erst in meinem Stockwerk stehen und vor der Tür nebenan. Während wir beide mit unseren Schlüsseln an den Türen klapperten, trafen sich unsere Blicke und verschmolzen für Augenblicke zu einem seltsamen Riss in der Raumzeit. Wir hatten kein Wort gewechselt oder Grußformeln getauscht. Sie war beim Öffnen der Tür schneller als ich, und bevor ich mich versah, war sie in ihrer Wohnung verschwunden. Ich stand noch immer dort, wie festgefroren, mit der Hand am Türknauf und heilfroh, dass sie meine ausgefallene Kleidung unter dem zugeknöpften Mantel nicht hatte sehen können.
Am nächsten Morgen, während ich mir in der Küche Milch in meinen unverzichtbaren Morgenkaffee rührte, fiel mir mein dahinschwindendes Vermögen ein. Über die unangenehmen Dinge denkt man immer im trostlosen Morgengrauen, nicht in den ausgelassenen Abendstunden.
Die Töchter des Königs von Siam hatten mich gut erleichtert.
Ich öffnete mit der dampfenden Tasse in der Hand das Gefrierfach und nahm die Plastiktüte heraus. Das Päckchen fühlte sich recht schwer an.
Ich stellte die Tasse beiseite und wickelte mit einem nicht gerade intelligenten Gesichtsausdruck die Verpackung auf.
Jemand hatte den Stapel wieder aufgestockt. Ich zählte hastig die Scheine durch und kam auf Dreißigtausend.
Nachdenklich gab ich einen unartikulierten Laut von mir und taumelte ins Wohnzimmer, wo ich mich auf das Sofa fallen ließ.
Verdammter Kapitän Nemo. Ich hatte sie stellenweise vergessen. Doch sie waren da. Sie sind immer da gewesen.
Würden sie mich jemals ansprechen? Würden sie jemals erklären, was das eigentlich war, das meinem Leben komplett auf den Kopf stellte?
Wie viel hatte ich eigentlich noch zu tun, mit dem Kerl, der im Haus der Kraniche vor sich hinvegetierte?
An diesem Morgen waren es einfach einige Fragezeichen zu viel. Heute wollte ich einige Antworten.
Ich zog mir die Kapuze meines Hoodies über den Kopf und ging in ein Internetcafé mit dem Namen »T.C.N.«. Die Abkürzung stand für »Trance-Cyberian Network«, was auf einer protzigen silbernen Tapete zu lesen war, die über der gesamten Länge der Rückwand klebte. Der zuständige Betreuer oder Wirt, oder wie man diese zumeist gelangweilten Leute hinter dem Tresen eines Cybercafés nennen will, wippte abwesend auf einem Barhocker und sah sich in einem kleinen Fernseher Baywatch an. Das mit dem Kaffee nahm keiner so richtig ernst. Die Internetcafés waren damals ein sehr neues Phänomen, und viele Leute kamen hierher, nur um kurz ihre Emails zu checken.
Der plastische Klang des Fernsehers mit seinen lästigen, vorlauten Werbeblöcken mischte sich auf eine recht befremdliche Art und Weise mit der etwas kitschigen New-Age-Musik, die aus den Lautsprechern drang und den eigentlichen Hintergrundsound für die Kundschaft bilden sollte.
Zu dieser Stunde war hier nicht viel los. Nur drei Touristen — zwei Männer und eine Frau — saßen einzeln an drei von den insgesamt zehn oder fünfzehn Stationen. Die Frau rauchte und starrte verbissen auf ihren Monitor, als ob dort der Bericht ihres Scheidungsanwalts stünde. Der überfüllte Aschenbecher zu ihrer Linken zeigte, dass sie schon länger hier war. Ich suchte mir ein Terminal aus, das in der Ecke stand und dessen Monitor von niemandem gesehen werden konnte. Ich bestellte mir einen Milchkaffee, was der Wirt mit einem abfälligen Zucken des Mundwinkels quittierte, da es ihn von Pamela Anderson und David Hasselhoff abhielt. Dann rief ich die Webseite von Yahoo! auf. Ich gab den Namen »Paul Lichtmann« ein und erhielt verschiedene Resultate. Doch die Webseiten hatten alle mit anderen Lichtmanns zu tun.
Bis auf eine Referenz. Möglicherweise. Es gab zwar keinen konkreten Anlass für mich, anzunehmen, dass es sich hier um meinen Paul Lichtmann handelte, doch ich hatte da so
Weitere Kostenlose Bücher