In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
ein seltsames Gefühl. Die Seite bot die Programmübersicht einer kleineren Konferenz, die auf dem Campus der Universität in Heidelberg stattgefunden hatte. Neben einem recht kleinen Foto von einem Mann mit Krawatte und penibel nach Hinten gekämmten ergrauten Haare, stand die Beschreibung: Dr. Paul Lichtmann referierte zu dem Thema: das Anthropische Prinzip und der Tod. Mehr gab es da nicht, und so betrachtete ich noch einige Augenblicke den älteren Mann, der auf diesem Schnappschuss vermutlich gerade ins Publikum blickte, seitlich ans Rednerpult gelehnt.
Es mochte aber auch eine komplette Sackgasse sein. Ich gab lieber den Begriff »Lux Aeterna« in das Suchfeld ein, doch damit verhielt es sich ähnlich. Es tauchten Texte zur Musik von György Ligeti oder dem Spielfilm »2001« von Stanley Kubrick auf. Erst als ich »Kerygma« eintippte, rieselten aus dem Bildschirm zaghaft Antworten, die eindeutig auf die richtige Fährte führten.
Vor mir baute sich eine schlichte TXT-Datei auf, die aus den unkontrollierbaren Tiefen des Usenets stammte. Es handelte sich um ein Interview, das ein gewisser Björn Randow mit einem Mann namens Paul Laurentius geführt hatte. Das Interview war nie veröf fentlicht worden. Dass sich hinter diesem Namen Paul Lichtmann verbergen konnte, war mir sofort klar.
Der Autor dieses Postings versicherte, der seltsame Text, der ihm hier in die Hände gefallen war, sei nur ein kurzer Abriss und es gäbe auch eine ungekürzte Version, die mindestens fünfzig Seiten lang sei. Leider gab es keinen Verweis auf die lange Version, also begann ich die vorhandene Ausgabe des Texts zu lesen.
Der Inhalt war recht verwirrend. Laurentius erzählte Björn Randow, dass die Kerygma eine Geheimloge sei, die sich aus Kapitalisten und »vormals progressiven, doch heute reaktionären und konservativen Unternehmern und machthungrigen Spekulanten« zusammensetzte. Sie besitzen traditionell zahlreiche Aktien bei privaten Stromversorgern, ihre Spieler seien in alle erdenklichen internationalen Energie-Konzerne und Kartelle eingeschleust. Das Kerygma beteilige sich vorrangig am Bergbaugeschäft und am Bau von Kraftwerken. Sogar bei politisch konkurrierenden energetischen Modellen wie Kohle- und Atomkraftwerken mische das Kerygma auf beiden Seiten mit.
Der Sinn und Zweck der Organisation diente ausschließlich einem Ziel: eine andere Gruppe mit dem Namen Lux Æterna zu jagen und zu vernichten. Dass sich diese Kampagne nicht gerade in einem rechtstaatlichen Rahmen abspielte, war offensichtlich. Der Konflikt zwischen Lux Æterna und Kerygma wurde in dem vorliegenden Text nicht tiefer erläutert, bis auf die Bemerkung, dass die Lux Æterna einen Ritus, der als »Aschewerdung« bezeichnet wurde, praktizierte, und das Kerygma die Anwendung dieser Zeremonie für verdammenswert hielt und bereit war, einen jeden auszulöschen, der damit in Berührung kam. Wenigstens so hatte ich den besagten Absatz verstanden. Für einen unbescholtenen Außenstehenden musste dieser ganze Text wie eine amüsante, moderne Fabel wirken. Ein Scherz, in den real anmutenden Rahmen eines Interviews gesetzt. Doch nach meinen Erfahrungen mit Rufus Mahr im Haus der Kraniche erschienen mir diese Zeilen keineswegs harmlos.
Plötzlich erinnerte ich mich an die Nachricht. Ich kramte nach meiner Brieftasche und fand den Zettel sofort. Neben dem Monitor befand sich ein silberfarbener Cannon-Scanner. Noch einmal sah ich auf die sinnlose Anhäufung von Buchstaben und legte das schmutzige Stück Papier auf das Scannerglas. Als ich fertig war, schickte ich eine leere Email an mich selbst und hängte den Scan an.
Das Papierröllchen verstaute ich wieder in meiner Brieftasche, wobei ich es mir nicht nehmen konnte, vorher noch einmal daran zu riechen. Doch der Duft aus Mottenkugeln und Mösensaft war verflogen.
Ich blickte von meinem Bildschirm hoch. Draußen fing es an, leicht zu nieseln und die kleinen Wassertropfen zerschlugen sich an den riesigen und exhibitionistisch anmutenden Schaufenstern des Cybercafés. Der Laden lag an einer Straßenecke, die ich durch mein Schlafzimmerfenster gerade noch am Ende der Straße sehen konnte. Ich dachte plötzlich daran, dass hier um acht Uhr morgens Banker und Versicherungskaufleute anhielten, um sich die Morgenzeitung von den Automaten zu holen. Nachmittags stand an dieser Ecke ein Zeuge Jehovas und hielt einen Wachturm hoch. Abends konnte man eine Gruppe Afrikaner sehen, die dort Gras, Koks und Amphetamine
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