In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
Profanisiert, wie so vieles. Bei Jesus ist das Manna jedoch das Brot des Lebens. Er benutzt es als Metapher für die göttliche Energie, die uns alle durchströmt.«
»Ah ja? Und das soll ich essen?«
»Das Empfangen göttlicher Energie zeichnet sich durch Wissen und Klarheit aus«, erklärte der Gelehrte nervös. »Eine wirklich zutreffende Beschreibung findet sich unerkannterweise an einer ganz anderen Stelle. Lesen Sie Hesekiel, Kapitel 3.«
»Werde ich tun«, erwiderte ich etwas verstockt.
»Das Manna war viele Jahrhunderte im Besitz der Essener«, fuhr Theophil Schorm fort.
»Die Essener?« fragte ich und stellte mir dabei eine Sekte im Ruhrgebiet vor.
»Die Essener waren eine religiöse Gemeinschaft, die kurz vor Christi Geburt existierte. Sie waren die Hüter zahlreicher Geheimnisse und eins davon war die Nahrung der Engel . Haben Sie noch nie etwas von den Schriftrollen vom Toten Meer gehört?«
»Vage«, gab ich aufrichtig zu.
»Der Historiker John Marco Allegro war der Wahrheit dicht auf der Spur. Er arbeitete in der wissenschaftlichen Kommission, die in den fünfziger Jahren mit der Untersuchung der Schriftrollen beauftragt war. Doch er beharrte auf dem Standpunkt, alle Erkenntnisse der Welt mitzuteilen, was die anderen Forscher ihm recht übel nahmen. In einem seiner Bücher beschrieb er die Ähnlichkeit mit psychedelischen Substanzen. Im zwanzigsten Jahrhundert kamen nur drei Menschen in den Genuss dieses Lichts. Einer von ihnen, wie hieß er noch...? Young... Arthur M. Young. Er kam zu mir während einer...«
»Und was macht diese Nahrung der Engel?«, wechselte ich das Thema, da ich das Gefühl hatte, dass er sich zu verzetteln begann. »Offensichtlich nicht den Bauch füllen.«
»Das ist richtig. Die Ambrosia oder das Manna war dafür gedacht, eingeweihten Gefolgsleuten die wahre Geschichte der Menschheit zu vermitteln. Doch als die Welt den Schatten in die Hände fiel und alles durchdrungen wurde von Zweifel und Disharmonie, gab es nur wenige, denen die Hierarchie den Verzehr von Ambrosia zutraute. Michael muss große Hoffnung in Sie setzen.«
Oder er ist verzweifelt, dachte ich und brummte stattdessen: »Damit steht er sicher ganz alleine. Er meinte, ich soll ein Buch schreiben, doch vermutlich haben die mich nur aufgezogen...«
»Engel machen keine Witze«, belehrte mich Schorm.
»Vielleicht doch. Unfreiwillig«, meinte ich müde. »Der eine hatte auf jeden Fall ein Talent dafür. Wie hieß er noch? Es fühlt sich alles wie ein Traum an, als könnte es alles wieder aus meinem Gedächtnis verschwinden. Manakel. Manakel war sein Name.«
»Sie haben mit Manakel gesprochen?« stieß Schorm aus und schlug fröhlich auf das Lenkrad. »Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. Aber ich bin glücklich, dass er noch existiert!«
Er fummelte während der Fahrt an dem nachträglich eingebauten Kassettenspieler. Schließlich rastete die Kassette ein und nach einigen Augenblicken erklang Musik.
Der Sound war deutlich älter als der Borgward Isabella. Es musste sich um einen Schlager aus der Zeit vor dem Weltkrieg handeln.
»Gefällt Ihnen das?« fragte Schorm und drehte sogleich lauter, während aus den Lautsprechern tönte: Wir gehn‘ so leicht am großen Glück vorbei und lassen uns das Schönste oft entgehen. So manche Liebe bleibt Liebelei, immer wieder heißt es nur ›Lebwohl‹ und ›Auf Wiedersehen´ .
»Was ist das?«
»Willi Forst in einem Lied von Michael Jary. Ganz großes Kino, sage ich Ihnen«, erklärte er.
Draußen wurde es langsam dunkel, und Willi Forst besang dazu die Traurigkeit verpasster Momente: Wir suchen oft das Glück am falschen Ort, doch wenn wir´s merken, dann ist es zu spät...
Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und beobachtete die Felder auf beiden Seiten der Autobahn. Das flache Sonnenlicht ließ sie in einem satten Braun und Orange leuchten.
»Was meinten Sie vorhin damit, sie seien froh, dass es Manakel noch gibt?«
»Auch der größte Engel kann verschwinden, wenn niemand mehr da ist, der an ihn glaubt«, sagte Theophil Schorm mit dem Tonfall eines Werbeslogans. Vermutlich war es für ihn unvorstellbar, dass ich derart ahnungslos war.
»Sie meinen...« Nun blickte ich ihn verwundert an. »Sie meinen, die Engel, die Dämonen, das ist alles nur ein Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft?«
»Bei Ihnen klingt das so ominös«, erwiderte er, ohne auf sein geduldiges Lächeln zu verzichten. »Wenn es niemanden mehr geben
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