In den Waeldern des Nordens - V3
zusammenzuschnüren begann. »Die Sonne brennt noch heiß, der Weg führt bergab und ist gut.«
Sie ließ gehorsam von ihrer Arbeit und setzte sich wieder.
Canim betrachtete sie mit forschenden Blicken. »Du kauerst nicht nieder wie andere Frauen?« bemerkte er.
»Nein«, sagte sie. »Es ermüdet mich, und ich kann in der Stellung nicht ausruhen.«
»Und warum zeigen deine Füße nicht geradeaus?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie anders als die Füße unserer Frauen sind.«
Ein zufriedenes Leuchten blitzte in seinen Augen auf, sonst aber gab er kein Zeichen.
»Gleich dem anderer Frauen ist dein Haar schwarz; aber weißt du, daß es weich und fein ist, weicher und feiner als das anderer Frauen?«
»Ich habe es bemerkt«, erwiderte sie kurz, denn sie war verwirrt von einer solchen kalten Erwähnung ihrer weiblichen Mängel.
»Es ist jetzt ein Jahr her, seit ich dich deinem Volke entführte«, fuhr er fort, »und du bist noch beinahe ebenso scheu und furchtsam vor mir wie damals, als meine Augen zum ersten Male auf dir ruhten. Woher kommt das?«
Li Wan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte mich vor dir, Canim, du bist so stark und fremd. Und dann: Bevor du deine Blicke auf mich warfst, fürchtete ich mich vor allen jungen Leuten. Ich weiß nicht – ich kann nicht sagen... Aber mir scheint, ich weiß nicht wieso, als wäre ich nicht für sie geschaffen, als wäre ich...«
»Nun?« ermutigte er sie, ungeduldig über ihr Stocken.
»Als wären sie nicht von meiner Art.«
»Nicht von deiner Art?« fragte er langsam.
»Ich weiß nicht, ich...« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich kann nicht in Worte kleiden, was ich empfand. Es war ein Gefühl von Fremdheit in mir. Ich war anders als andere Mädchen, die die jungen Männer im geheimen aufsuchten. Ich konnte mir nichts aus den jungen Männern auf diese Weise machen. Es schien mir, als wäre es ein großes Unrecht, eine schlechte Handlung.«
»Was ist deine früheste Erinnerung?« fragte Canim plötzlich ohne Übergang.
»Pow-Wah-Kaan, meine Mutter.«
»Und nichts vor Pow-Wah-Kaan?«
»Nichts.«
Aber Canim hielt ihren Blick mit dem seinen fest, suchte im Innersten ihrer Seele und sah sie schwanken.
»Denk nach, denk scharf nach, Li Wan!« drohte er. Sie stammelte, und ihre Augen flehten um Mitleid, aber sein Wille beherrschte sie und entrang die Worte ihrem widerstrebenden Munde.
»Aber es waren nur Träume, Canim, böse Träume meiner Kindheit, Schatten unwirklicher Dinge, Gesichte, ähnlich wie Hunde sie wimmernd sehen, wenn sie in der Sommerhitze schlafen.«
»Erzähle von diesen Dingen!« befahl er.
»Es sind vergessene Gedanken«, wandte sie ein. »Als Kind träumte ich wach, die offenen Augen dem Tage zugewandt, und wenn ich von den seltsamen Dingen sprach, die ich sah, lachte man mich aus, und die andern Kinder fürchteten sich und zogen sich vor mir zurück. Und wenn ich von dem, was ich sah, zu Pow-Wah-Kaan sprach, so schalt sie mich aus und sagte, es sei häßlich; sie schlug mich auch deswegen. Es war eine Krankheit, glaube ich, wie die Fallsucht, die alte Männer befällt, und allmählich ging es mir besser, und ich träumte nicht mehr. Und jetzt – kann ich mich nicht mehr darauf besinnen.« Sie hob verwirrt die Hand an die Stirn. »Hier irgendwo stecken sie, aber ich kann sie nicht finden, nur...«
»Nur«, wiederholte Canim und hielt sie fest.
»Nur eines. Aber du wirst über meine Torheit lachen, es ist so unwahrscheinlich.«
»Nein, Li Wan. Träume sind Träume. Sie mögen Erinnerungen an andere Leben sein, die wir lebten. Ich war einst ein Elch. Ich glaube ganz fest, daß ich einst ein Elch war, wenn ich daran denke, was ich in Träumen gesehen und gehört habe.«
Sosehr er sich auch bemühte, sie zu verbergen, offenbarte sich doch eine immer wachsende Ängstlichkeit, aber Li Wan, die nach Worten suchte, in die sie ihre Gedanken kleiden konnte, bemerkte sie nicht.
»Ich sehe einen Platz mit festgestampftem Schnee zwischen den Bäumen«, begann sie, »und im Schnee die Fährte eines Mannes, der sich schwer auf Händen und Füßen weiterschleppt. Und ich sehe auch den Mann im Schnee, und wenn ich ihn sehe, scheint es mir, als sei ich ihm ganz nahe. Er sieht nicht so aus wie andere Männer, denn er hat Haar im Gesicht, viel Haar, und das Haar auf seinem Gesicht und seinem Kopfe ist gelb wie das Sommerkleid eines Wiesels. Seine Augen sind geschlossen, aber sie öffnen sich und suchen umher. Sie sind blau wie der
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