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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ich und stürzte. Ginevra entfernte sich immer weiter, sie wurde immer kleiner, und irgendwann war sie vollkommen verschwunden. Unglücklich setzte ich mich ins Gras. Ich fühlte mich einsam und sehr unglücklich.
    Alles in Ordnung, Chef?
    Ich drehte mich um und sah Scott herbeitraben.
    »Scott, Gott sei Dank bist du da. Wo hast du denn gesteckt?«
    He, Chef, was machst du denn für ein Gesicht? Was ist passiert?
    In diesem Moment fiel es mir nicht auf, aber Scott ist ein Meister darin, unangenehmen Fragen auszuweichen.
    »Ginevra war da, ich habe sie gegrüßt, und sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe versucht, zu ihr zu gehen, und sie ist weggelaufen.«
    Scott sah mich mit einem Ausdruck an, der schwer zu definieren war.
    »Was ist los, Scott? Ginevra kommt schon seit Tagen nicht mehr zur Schule, und wenn ich ihr begegne, läuft sie weg.«
    Ich weiß es nicht, Chef, aber ich habe das Gefühl, dass es ein Problem auf der anderen Seite gibt.
    »Was meinst du damit?«
    Die andere Seite ist, wenn du wach bist, Chef. Aber das ist ein Gelände, auf dem ich mich nicht gut auskenne.
    Obwohl ich jetzt besorgt und traurig war wegen Ginevra, erinnerte mich dieser Satz von Scott daran, dass ich schon seit einiger Zeit etwas fragen wollte.
    »Erinnerst du dich an das erste Mal, als wir uns begegnet sind, Scott?«
    Das könnte ich niemals vergessen, Chef.
    »Erinnerst du dich, wer bei mir war?«
    Dein Vater.
    Dein Vater.
    Ich glaube, dass keiner jemals diese beiden Worte zu mir gesagt hat. Zumindest könnte ich mich nicht erinnern. Die wenigen Male, die Mama von meinem Vater spricht, sagt sie dein Papa , und die Großeltern ebenfalls. Wenn ich an meinen Vater denke, verwende ich so gut wie immer den Ausdruck Vater , aber wenn jemand anderes ihn benutzt, gibt es mir das Gefühl, dass es meinen Vater tatsächlich gab, dass er nicht nur in meiner Erinnerung und meiner Fantasie existiert.
    Dein Papa ist natürlich kein schlechter Ausdruck, ganz im Gegenteil. Aber, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es steht eher für eine Beziehung zwischen Mann und Kind. Die einzige Beziehung, die es jemals zwischen uns beiden gab und die für immer vorbei ist.
    »Warum ist er verschwunden und nie wieder aufgetaucht?«
    Während ich den Satz noch aussprach, wurde mir klar, dass ich selbst nicht genau wusste, ob ich über den ersten Traum mit Scott sprach oder über meinen Vater, der von zu Hause wegging und nie wieder nach Hause kam. Und ich merkte, wie wütend ich über ihn war – sehr wütend –, weil er einfach verschwunden war. In der realen Welt oder im Traum oder in beiden.
    Scott sagte nichts und sah mich nur mit demselben ernsten Ausdruck an wie vorher.
    »Weißt du, dass mein Vater Schriftsteller war?«
    Ja, Chef, wir kennen uns gut, dein Vater und ich.
    »Wenn ihr euch so gut kennt, warum hilfst du mir nicht, ihn zu treffen? Ich müsste wirklich dringend mit ihm sprechen.«
    Dein Vater ist immer hier in der Gegend, auch wenn er sich nicht zeigt. Er hat auch einiges, was er dir sagen muss, aber er weiß nicht, wie er es anstellen soll.
    »Was muss mein Vater mir denn sagen, Scott?«
    Er seufzte und wollte mir vielleicht gerade antworten, doch gerade in diesem Moment wachte ich auf. Ich versuchte, wieder einzuschlafen und weiterzuträumen, um die Antwort zu hören, aber es gelang mir nicht.
    Es gelingt nie.

17
    Als der Moment gekommen war, den Cabernet zu trinken, den sie bestellt und sich eingeschenkt hatten, zögerte Roberto. Sie merkte es.
    »Du trinkst doch Alkohol, oder? Doch, du hast ja auch einen Spritz bestellt vorhin.«
    »Es ist nur so, dass ich immer noch Medikamente nehme, die sich schlecht mit Alkohol vertragen. Und jetzt habe ich schon etwas getrunken … Aber eigentlich ist das kein Problem, ich trinke den Wein und nehme dafür heute keine Medikamente. Der Doktor meinte, das könnte ich von Zeit zu Zeit tun. Auch wenn ich es bisher noch nie getan habe und mich die Sache ein wenig beunruhigt. Aber schlimmstenfalls schlafe ich heute Nacht eben nicht.«
    »Du nimmst immer noch Tabletten? Wie lange gehst du denn schon zum Doktor?«
    »Seit …« Schon wieder dieses unangenehme Gefühl, die zeitlichen Koordinaten nicht zu finden. Seit wann ging er denn zum Doktor? Er fischte im Trüben, wie vorher, als er sich erinnern wollte, in welchem Jahr seine Mutter gestorben war.
    Gleich nach dem Sommer hatte er mit den Sitzungen angefangen.
    Ja, es war im September gewesen. Jetzt war April, somit waren es mehr oder weniger

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