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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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große Lust, dir alles zu erzählen. Können wir nicht etwas Gehaltvolleres trinken? Was weiß ich, einen fünfzehnprozentigen Primitivo aus Apulien? Und uns auch etwas zu essen bringen lassen?«
    Er sah sie an, ohne die Frage auszusprechen, die ihm jedoch ins Gesicht geschrieben stand. So deutlich, dass sie sie gleich verstand.
    »Du denkst dir jetzt, dass ich doch gesagt hatte, ich hätte nicht viel Zeit.«
    »In der Tat hast du das gesagt.«
    »Ich wollte mir ein Hintertürchen offenlassen. Wer ist das eigentlich? Eine Zufallsbekanntschaft, noch dazu aus der Praxis eines Psychiaters. Womöglich langweilt er mich schon nach zehn Minuten. Womöglich macht er sich völlig falsche Vorstellungen, immerhin ist er ja verrückt, so wie ich und die anderen Patienten auch. Womöglich ist er sogar gefährlich, ein Triebtäter, ein potenzieller Vergewaltiger, was weiß ich. Ich wollte einfach frei sein, mich jederzeit abzuseilen.«
    »Und jetzt?«
    »Bis jetzt habe ich noch keine Lust bekommen, mich abzuseilen. Du bist ein guter Zuhörer. Ich erzähle dir gern von mir. Ich nehme an, das bedeutet auch, dass du deinen Job gut machst.«
    Welchen Job? Einen Job, den er nicht mehr ausübte. Er bezog ein Gehalt wie jeder Polizist, der aus gesundheitlichen Gründen freigestellt ist, aber einen Beruf – eine Tätigkeit, auf die er sich verstand und die er ausübte – hatte er nicht mehr. Nach Ablauf der Freistellung aus gesundheitlichen Gründen würde er eine Entscheidung treffen müssen. Entweder er ging zurück zur Polizei und ließ sich als Kommandant an eine Dienststelle wie seine erste versetzen, wo er mit Streitereien unter Nachbarn und Delikten wie Fahren ohne Führerschein und dem Diebstahl von Autoradios befasst war – gab es so etwas überhaupt noch, gestohlene Autoradios? Nein. Also nicht einmal das.
    Oder aber er kündigte. Das war wohl die beste Lösung. War er eigentlich pensionsberechtigt? Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt, wer weiß, warum sie ihm ausgerechnet jetzt in den Sinn gekommen war, wo er sich mit ihr unterhielt. Vielleicht hatte er einen Anspruch auf Frührente? Oder, fiel ihm ein, einen Rentenanspruch für seine zwanzig Dienstjahre, bis zu deren Antritt er jedoch erst noch ein gewisses Alter erreichen musste. Ein gewisses Alter, wie schrecklich das klang. Er musste sich erkundigen, was dieses gewisse Alter war, in dem er in Pension gehen konnte.
    Ihre Stimme riss ihn aus diesen Gedanken.
    »Hallo, bist du noch da?«
    »Entschuldige. Du hast von meiner Arbeit gesprochen, und da sind mir ein paar Gedanken durch den Kopf gegangen, die mich abgelenkt haben.«
    »Das habe ich gemerkt. Du warst ganz woanders.«
    »Dann lass uns doch den zweiten Teil des Abends organisieren. Wenn wir ein Glas Wein trinken wollen und vielleicht auch etwas essen, sollten wir besser in ein Restaurant gehen. Hast du irgendwelche Vorlieben?«
    »Allerdings habe ich die«, lächelte sie. Jetzt sah sie aus wie ein kleines Mädchen, und er spürte, wie sein Herz zerbrach und in lauter Einzelteile zerfiel. »Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr beim Inder gegessen. Hier ganz in der Nähe gibt es einen, der früher sehr gut war. Ich weiß nicht, ob er es noch ist. Wollen wir das herausfinden?«

Giacomo
    Ginevra ist noch nicht wieder in die Schule gekommen – sie fehlt jetzt seit drei Tagen – und hat auch nicht auf meine Freundschaftsanfrage auf Facebook geantwortet. Keiner weiß, warum sie fehlt, und ich mache mir langsam Sorgen.
    Ich denke, dass das der Grund ist, weshalb ich so früh aufgewacht bin und nicht mehr einschlafen kann. Ich schaffe es nicht, im Bett zu bleiben, und deshalb bin ich aufgestanden und habe den Traum von voriger Nacht aufgeschrieben. Damit die Zeit vergeht und meine Nervosität auch.
    Ich bin beim Lesen eingeschlafen (meine Mutter ist dann wohl hereingekommen und hat das Licht gelöscht), und kurz darauf war ich im Park. Scott war nicht da, und im Gegensatz zu den anderen Malen war der Himmel bewölkt. Die Luft war frisch, beinahe kühl, das Gras wirkte höher. Ich sah mich um und erblickte Ginevra. Ich winkte ihr zu, doch sie sah mich nicht und ging schnell in die andere Richtung.
    Ich lief hinter ihr her, doch so schnell ich auch lief, ich konnte sie nicht einholen. Im Gegenteil, je schneller ich wurde, desto mehr vergrößerte sich der Abstand zwischen uns. Ich versuchte zu rennen, doch meine Beine waren schwer wie Blei. Ich hatte das Gefühl, in Zeitlupe zu laufen, und irgendwann stolperte

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