In der Brandung
Robertos Kopf entstand Estelas Erscheinung, wie sie auf dem Bett saß und das unsichtbare Kind im Dunkeln hielt.
Das dauerte ein paar Sekunden und verursachte einen plötzlichen, durchdringenden Schmerz.
»Das ist Giacomo«, sagte Emma, »und das ist Roberto.«
Roberto streckte die Hand aus und spürte einen überraschend festen Händedruck.
»Roberto ist ein Carabiniere.«
Alle drei blieben stumm, bis Roberto das Schweigen brach.
»Du sagtest, dass Giacomo mit mir reden wollte. Vielleicht ist es besser, wenn wir das unter vier Augen tun. Macht es dir etwas aus, uns ein paar Minuten allein zu lassen?«
Emma sah sich ratlos um. Sie suchte nach etwas, das sie erwidern konnte, fand aber nichts. Also zuckte sie die Achseln, sagte, sie sollten sie rufen, wenn sie fertig waren, und verließ das Zimmer.
Roberto sah den Jungen an, und dieser hielt seinem Blick stand.
»Wollen wir uns setzen?«
Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch. Roberto spürte die Falten des Leders unter seinen Händen und stellte mit Verwunderung fest, dass seine Sinne – in diesem Moment der Tastsinn – nach und nach zurückzukehren schienen.
»Ich habe den Eindruck, dass du jemand bist, der gleich zur Sache kommt«, sagte Roberto.
»Sie sind also ein Carabiniere?«
Eben.
»Ja, ich bin Unteroffizier bei den Carabinieri.«
»Was tun Sie da genau?«
»Ich bin Fahnder, mein Einsatzgebiet ist das organisierte Verbrechen.« Es war nicht der richtige Moment, allzu sehr ins Detail zu gehen, wie etwa, dass er sich früher einmal mit organisiertem Verbrechen beschäftigt hatte und dass das nie wieder der Fall sein würde.
Die Antwort schien den Jungen jedenfalls nicht besonders zu beeindrucken.
»Woher kennen Sie meine Mutter?«
»Sie hatte eine Autopanne, und ich habe das gesehen und ihr geholfen, das Auto wieder flottzumachen. Dann habe ich sie zufällig ein paar Male wieder getroffen, und wir haben uns unterhalten. Heute rief sie mich an, um mir zu sagen, dass du einen Polizisten oder Carabiniere sprechen wolltest. Ich glaube, ich bin der einzige Mensch, den sie kennt, der diesen Beruf ausübt, und deshalb hat sie mich gefragt.«
Der Junge kratzte sich am Kopf. Er war mit seinen Fragen durch und wusste nicht mehr, wie er weitermachen sollte.
»Nach dem, was deine Mutter mir gesagt hat, hast du von einem Problem erfahren, das eine deiner Schulkameradinnen hat.«
»Ja.«
»Willst du mir sagen, worum es geht?«
Giacomo erzählte seine Geschichte, und er tat das nüchtern und präzise, wie ein Ermittlungsbeamter, der Bericht erstattet. In der Schule gingen Gerüchte über Pornofilme und Prostitution um. Diesen Ring schien eine Gruppe älterer Schüler zu organisieren, wahrscheinlich aus den höheren Klassen. Sie zwangen die Mädchen zu sexuellen Handlungen und filmten sie dabei, und unter diesen Mädchen war eine aus seiner Klasse – Giacomo nannte Vor- und Nachnamen –, der unbedingt geholfen werden musste.
»Wer hat dir das erzählt?«
»Leute aus der Schule, deren Namen ich aber nicht kenne«, sagte Giacomo und fuhr sich übers Gesicht wie jemand, der nicht die ganze Wahrheit sagt. Nichts Gravierendes, dachte Roberto. Der Junge wollte nur seine Quellen schützen. Wie jeder Bulle, der auf sich hält.
»Hast du versucht, mit dem Mädchen – Ginevra, so heißt sie, oder? – darüber zu sprechen?«
»Ja, das habe ich.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Nichts.«
»Wie kannst du dann wissen, dass sie in die Sache verwickelt ist und Hilfe braucht?«
Giacomo zögerte, bevor er antwortete.
»Ich weiß, dass das absurd klingt, aber ich habe es geträumt. In einem Traum bat Ginevra mich verzweifelt um Hilfe.«
Tatsächlich fand Roberto, auch wenn er es nicht sagte, die Sache ganz und gar nicht absurd, sondern reagierte automatisch, ohne dass es ihm bewusst war, wie ein Carabiniere und überlegte, was er tun konnte. Denn vermutlich war es nötig – Traum hin oder her –, den Gerüchten nachzugehen. Wenn Geschichten im Umlauf sind, die sich hartnäckig halten, dann ist meistens irgendetwas dran. Alle wichtigen Fahndungen hatten ihren Ursprung in Gerüchten, die mehr oder weniger hartnäckig im Umlauf waren.
Er dachte, dass er zu der Schule gehen und sich von Giacomo das Mädchen zeigen lassen konnte, um es ein wenig im Auge zu behalten, herauszufinden, wohin es ging, und dann aufgrund dessen, was sich ergab – falls sich etwas ergab –, nach Gefühl zu handeln. Wie er es immer getan hatte. Bei der vielen freien Zeit, die
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