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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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weiter, ohne mir zu antworten.
    Ich ging vollkommen aufgewühlt nach Hause und fragte mich, was ich tun konnte. Das tat ich den ganzen Nachmittag über. Mir kamen zwar einige Ideen – mit den Lehrern reden, zur Polizei gehen, Ginevra festhalten und sie zwingen, mir zu sagen, was passierte –, aber ich verwarf sie alle wieder, weil sie mir vollkommen unrealistisch vorkamen.
    Ich fragte mich, ob ich es meinem Vater gesagt hätte, wenn er noch da gewesen wäre, und während ich an meinen Vater dachte, wurde mir klar, dass es eine Sache gab, die ich tatsächlich tun konnte.
    Es lag auf der Hand. Das Allereinfachste.
    Ich weiß, ich hätte gleich darauf kommen müssen. Aber für einen Jungen ist es nicht einfach, über gewisse Dinge mit seiner Mutter zu sprechen.

25
    Das Telefon klingelte vier, fünf Mal, bevor Roberto es in der Küche fand, zwischen der Espressomaschine, den angeschlagenen Tassen und einer halbleeren Kekstüte.
    »Hallo?«
    »Roberto?«
    »Emma.«
    »Na, alles in Ordnung? Entschuldige, aber deine Stimme klingt seltsam.«
    »Ich bin nur außer Atem, ich mache gerade meine Gymnastik.«
    »Also, ich habe dich gar nicht wiedererkannt. Deine Stimme klingt … ganz anders. Aber was sage ich da? Wir haben ja nur ein einziges Mal telefoniert, und ich kann mich gar nicht erinnern, wie deine Stimme da klang.« Nach einer kurzen Pause: »Also, falls ich vorgehabt hätte, mit deiner Hilfe mein mangelndes Selbstgefühl aufzumöbeln, hätte ich ganz schön Pech gehabt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich bin ganz eindeutig auf dem absteigenden Ast. Oder besser gesagt, die Begegnung mit dir hat mir bestätigt, dass ich auf dem absteigenden Ast bin. Früher einmal hätte mich ein Mann, mit dem ich so einen langen Abend verbracht hätte, spätestens am nächsten Morgen angerufen. Wenn er nicht gar gleich darauf gedrängt hätte, mir seine Wohnung zu zeigen. Und jetzt ist eine ganze Woche ohne ein Lebenszeichen von dir vergangen. Es ist offiziell, meine Zeit als hübsches Mädchen liegt hinter mir.«
    Roberto wusste nicht, was er sagen sollte. Natürlich hatte er viele Male daran gedacht, sie anzurufen, und es dann doch nie über sich gebracht. Er hatte sich gefragt, aus welchem Grund er es nicht schaffte, aber keine Antwort gefunden. Nach der Nacht im Sprechzimmer des Doktors war alles in einen Schwebezustand geraten.
    »Zum Glück habe ich einen Grund gefunden, dich anzurufen. Hast du einen Moment Zeit für mich?« Jetzt klang ihre Stimme plötzlich sehr ernst.
    »Ja, sicher.«
    »Giacomo, mein Sohn, hat mir eine ungewöhnliche Frage gestellt.«
    Auf einmal schien sie zu zögern, so als kämen ihr Zweifel über den Sinn des Anrufs. Ein paar Sekunden vergingen so, dann brach Roberto das Schweigen.
    »Erzähl.«
    »Er fragte mich, ob ich einen Polizisten kenne.«
    »Warum wollte er das wissen?«
    »Er sagte, er wolle mit einem Polizisten reden, weil er ihm etwas sagen müsse.«
    »Und was ist das?«
    »Er hat nur Andeutungen gemacht. Er sagt, dass ein Mädchen aus seiner Klasse ernsthafte Probleme habe und dass das ein Fall für die Polizei sei.«
    »Hat er dir gesagt, welcher Art diese Probleme sind?«
    Emma seufzte.
    »Giacomo ist ein schwieriger Junge. Ich habe dir ja schon gesagt, es ist nicht leicht, mit ihm zu sprechen oder ihn zum Reden zu bringen. Das Wenige, das er mir gesagt hat, erscheint mir allerdings sehr bedenklich – falls es wahr ist.«
    Neue Pause. Stille. Man konnte das Atmen am anderen Ende der Leitung hören.
    »Sag, hättest du nicht eine halbe Stunde Zeit? Wir könnten uns treffen, dann erzähle ich dir, was ich weiß, und wenn du willst, kannst du danach mit Giacomo reden. Wenn du mit ihm direkt sprichst, wirst du schon merken, ob an der Sache was dran ist oder nicht.«
    Ob ich eine halbe Stunde Zeit habe? Ich habe alle Zeit der Welt, nicht nur eine halbe Stunde. Seit Monaten habe ich alle Zeit der Welt und werde bald noch mehr haben, wenn sie mich rausschmeißen. Er dachte diese Worte genau so, aber er sagte sie nicht. Und doch dachte er zum ersten Mal angstvoll an die Möglichkeit, für immer den Dienst quittieren zu müssen. Lange Zeit hatte er gemeint, es sei ihm gleichgültig; die Vorstellung, keine Uniform mehr zu tragen, hatte ihn kalt gelassen. Aber jetzt verstörte ihn dieser Gedanke.
    »Ich habe Zeit. Wo wollen wir uns treffen?«
    * * *
    Diesmal war sie pünktlich, ja überpünktlich, denn als Roberto um drei Uhr kam, saß sie schon am selben Tisch wie letztes Mal.
    Als Emma ihn sah,

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