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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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er hatte, kostete ihn die Sache ja nichts. Schlimmstenfalls würde einfach nichts dabei herauskommen.
    »Gut, Giacomo. Ich werde versuchen, etwas herauszufinden, aber ich brauche deine Hilfe.«
    »Was soll ich tun?«
    »Wann hast du morgen Schule aus?«
    »Um eins.«
    »Dann komme ich morgen um eins zu deiner Schule. Wenn ihr herauskommt, versuchst du, so nahe wie möglich bei dem Mädchen zu sein, damit ich weiß, wer sie ist. Wenn du mich siehst, vergewissere dich, dass ich verstanden habe, welches Mädchen gemeint ist – ich gebe dir ein Zeichen –, und dann kannst du einfach nach Hause gehen. Den Rest mache ich dann allein. Ach, und natürlich darfst du niemandem erzählen, was wir besprochen haben. Einverstanden?«
    Giacomo willigte ein und sah ihn an, als wollte er noch etwas sagen.
    »Willst du mir noch etwas sagen?«
    »Ja.«
    »Dann raus damit.«
    »Danke.«
    »Wofür denn?«
    »Dass Sie mir zugehört haben und mich nicht wie ein kleines Kind behandeln.«
    Roberto senkte den Kopf wie bei einer Verbeugung, es war eine Geste des Respekts.
    »Ich denke, wir können jetzt deine Mutter rufen. Wir beide sehen uns morgen vor der Schule, um eins, abgemacht?«
    »Abgemacht.«
    Sie riefen Emma. Als sie hereinkam, sagte sie nichts, aber ihr Gesicht war voller Fragen.

27
    Eine Stunde später war Roberto beim Doktor. Es war, als seien Monate vergangen seit dem letzten Mal.
    »Ich weiß gar nicht, worüber ich heute sprechen soll.«
    »Dann sprechen Sie einfach nicht.«
    »Ich fühle mich … wie soll ich das sagen?«
    »Vielleicht fühlen Sie sich verlegen?«
    »Ja, vielleicht.«
    »Das war eine neue Situation, es ist normal, dass Sie sich so fühlen.«
    »Liegt das an dem, was ich Ihnen letztes Mal erzählt habe?«
    »Es liegt an vielen Dingen, auch daran, was wir uns letztes Mal gesagt haben. Alles in allem war es eine ziemlich ungewöhnliche Sitzung.«
    Roberto strich sich mit den Händen übers Gesicht.
    »Sie sagten, es sei eine neue Situation gewesen, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Wissen Sie was?«
    »Was?«
    »Ich habe den Eindruck, dass die Wörter – ich meine, ganz normale Wörter, die ich bestens kenne, wie etwa Situation – auf einmal einen deutlicheren, präziseren Sinn bekommen haben.«
    »Die Welt bekommt langsam wieder einen Sinn. Falls Ihnen das nicht klar sein sollte: Das ist eine gute Nachricht.«
    »Soll das heißen, dass es mir besser geht?«
    »Das heißt, dass es Ihnen besser geht, auf jeden Fall. In den nächsten Tagen reduzieren wir die Dosierung der Medikamente.«
    »Es tut mir leid, was Sie letztes Mal erzählt haben … das mit Ihrem Sohn.«
    Der Doktor deutete ein Lächeln an.
    »Ich sollte das nicht sagen, es verstößt gegen alle Regeln, aber es hat mir gutgetan, mit Ihnen darüber zu reden.«
    * * *
    An der Tür drückte der Doktor ihm die Hand und sagte, er freue sich darüber, wie die Dinge sich entwickelten.
    »Ich habe eine Ihrer Patientinnen kennengelernt«, sagte Roberto.
    »Ich weiß.«
    »Ich dachte mir schon, dass Sie es mitbekommen haben.«
    »Ich glaube, das ist eine gute Sache.«
    Roberto sah ihn an.
    »Eine gute Sache«, sagte der Doktor, dann verabschiedete er sich mit einem Lächeln und ging in sein Sprechzimmer.
    * * *
    Am nächsten Morgen erwachte er mit gemischten Gefühlen: freudige Erwartung und leichte Beklemmung. Er machte ein wenig Gymnastik, duschte und zog sich dann sorgfältig an, wobei er versuchte, sich auf die einzelnen Bewegungen zu konzentrieren.
    Er fing bei der Hose an, in die er erst ein Bein und dann das andere schob, ohne sich abzustützen; dann nahm er ein Hemd heraus, das er am Wochenende gebügelt hatte, und betrachtete stolz sein Werk, bevor er erst einen Arm und dann den anderen in die Ärmel einführte; er setzte sich auf die Bettkante und zog die Strümpfe an, die er vorher genau untersucht hatte, ob sie dieselbe Farbe hatten und keine Löcher; er probierte die neuen Schuhe an, die er vor ein paar Tagen gekauft hatte; er zog den Gürtel durch die Schlaufen und entdeckte, dass er ihn um ein Loch enger schnallen konnte, eines, das er bis jetzt noch gar nicht verwendet hatte; schließlich schlüpfte er in das Jackett und warf einen letzten Blick in den Spiegel.
    Es war absurd, dachte er, aber es hatte ihm Spaß gemacht sich anzuziehen. Vielleicht, weil er es bewusst getan hatte? Sorgfältig? Er öffnete seine Brieftasche, nahm seinen Polizeiausweis heraus und studierte ihn, als ob er ihn noch nie gesehen hätte. Natürlich ging es um das Foto. Es

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