In der Brandung
war gar nicht so alt, aber es schien das Bild eines anderen zu sein. Wer war dieser Mann in Uniform, ohne Bart, ohne tiefe Stirnfalten und mit dem herausfordernden Blick von einem, der vor nichts Angst hat? Wann war er verschwunden und hatte seinen Platz einem anderen überlassen? Wo war er abgeblieben? Irgendwo musste er doch sein, vielleicht in einer Parallelwelt, zu der man nur die Tür finden musste, dachte Roberto, und dieser absurde Gedanke hatte eine tröstliche und wohltuende Wirkung auf ihn.
Er ging mit einer Mischung aus Freude und Beklemmung – Gefühlen, die nach wie vor beide in ihm gärten – aus dem Haus und frühstückte in der Bar, in der er sich die beiden Male mit Emma getroffen hatte. Er nahm einen Cappuccino und ein Croissant, rauchte nur eine Zigarette und sah den Passanten zu. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit genoss er es, Muße zu haben.
Der Morgen war strahlend hell, aber nicht warm. Ein perfekter Frühlingstag, dachte Roberto, während er entspannt und aufmerksam durch die Straßen spazierte, sich umsah, ja alles, was um ihn herum war, tatsächlich sah . Sein Blick funktionierte wieder.
Ein paar Minuten später stand er vor der Schule.
* * *
Das wütende Schrillen der Glocke drang bis auf die Straße. Es vergingen etwa dreißig Sekunden, während derer es nicht so aussah, als habe der Lärm irgendwelche Folgen, doch dann strömten die Schüler alle zugleich aus dem Gebäude. Giacomo tauchte als einer der Ersten auf, direkt neben einem blonden Mädchen. Er lief weiter neben ihr her, bis seine Augen Robertos Blick begegneten. Dann blieb er mit etwas hilfloser Miene stehen, wie jemand, der seine Pflicht getan hat und keinen Einfluss auf das hat, was danach kommt. Beim besten Willen nicht. In einem Moment ist man unersetzlich, im nächsten schon überflüssig. Roberto sah ihn an und ahnte, wie er sich fühlte. Dann drehte er sich um und setzte sich in Bewegung.
Ginevra ging schnell und sah sich von Zeit zu Zeit um. Sie kam zu einer Bushaltestelle und wurde von der Gruppe der Wartenden verschluckt. Roberto näherte sich. Verschiedene Busse hielten und fuhren wieder los. Dann kam einer, in den das Mädchen einstieg. Roberto folgte ihr. Er hatte keinen Fahrschein. Wenn sie mich kontrollieren, zeige ich meinen Polizeiausweis, dachte er. Im Bus musterte er das Mädchen. Hübsch, aber nichts Besonderes.
Ginevra stieg drei Haltestellen weiter aus, lief noch ein paar Minuten, schloss dann die Tür eines eleganten Wohnhauses auf und verschwand darin.
Roberto überprüfte die Klingelschilder, um sicher zu sein, dass sie dort wohnte. Ginevras Nachname stand auf einem der Schilder. Wie es das Protokoll bei Beschattungen vorschrieb, blieb er noch eine halbe Stunde auf dem Gehsteig gegenüber stehen und wartete ab. In dieser halben Stunde betrat eine ältere Frau das Gebäude, und keiner verließ es. Es war etwa zwei Uhr, als Roberto beschloss, dass er nun gehen konnte.
28
»Emma?«
»Roberto.«
»Äh, ist alles … in Ordnung?«
»Ja, und bei dir?«
»Bei mir auch. Ich war bei Giacomos Schule.«
»Ja, er hat es mir erzählt. Hast du … ich meine, hast du etwas herausgefunden?«
»Ich bin dem Mädchen bis nach Hause gefolgt, aber es ist nichts passiert.«
»Roberto?« Jetzt sprach sie plötzlich leise.
»Ja?«
»Was denkst du eigentlich über die Sache?«
Pause am anderen Ende der Leitung. Roberto wusste nicht, was er dachte. Noch nicht, jedenfalls.
»Roberto, bist du noch dran?«
»Ich weiß es nicht. Morgen gehe ich wieder an die Schule, und dann werden wir sehen, was passiert. Falls etwas passiert.«
Emma blieb eine Weile stumm.
»Rufst du mich danach an?«
»Sicher, ich rufe dich an.«
Wieder Stille. Wollte sie bloß deshalb angerufen werden, weil sie wissen wollte, wie es weiterging? Oder gab es noch einen anderen Grund?
»Grüß Giacomo von mir. Sag ihm, dass ich mich der Sache annehme.«
»Das wird ihn freuen. Er mag dich, und das kommt nicht häufig vor.«
* * *
Der darauffolgende Vormittag lief genauso ab, mit demselben unentschlossenen, trägen und zugleich aktiven Rhythmus. Ohne einen wirklichen Grund hatte Roberto einen kleinen Feldstecher und einen Fotoapparat mitgenommen. Es war unwahrscheinlich, dass er sie brauchen würde, aber es kostete ihn nichts, sie einzustecken, hatte er sich gesagt, als er aus dem Haus ging. Er hatte sich eine alte Militärtasche umgehängt, mit der er sich ein wenig lächerlich vorkam.
Giacomo kam beinahe aus der Schule gerannt und
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