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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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stand sie auf, und als er an den Tisch kam, küsste sie ihn auf die Wangen. Vielleicht lag es an der Umarmung, vielleicht an den beiden Küssen – zwei Küsse, bei denen sie die Lippen auf seine Wangen drückte, nicht die übliche Begrüßung, Wange an Wange –, vielleicht auch an etwas ganz anderem, aber Roberto glaubte, rot zu werden, und fühlte so etwas wie einen leichten Stromschlag durch seinen ganzen Körper gehen. Gleich danach fühlte er sich verlegen und ärgerte sich über seine Unbeholfenheit.
    »Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie.
    Keine Ursache, es ist mir ein Vergnügen, wollte er schon sagen. Aber er hielt sich zurück und hatte den Eindruck, gut daran zu tun. Es war, als müsse er erst wieder lernen, wie man sich richtig verhielt.
    »Erzähl mir von Giacomo.«
    »Gut. Also, ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht ist ja alles nur Einbildung, und ich erzähle dir nur davon, weil ich beruhigt werden will.«
    »Mach dir keine Sorgen. Erzähl mir einfach, was du weißt, und wir versuchen gemeinsam zu verstehen, worum es geht.«
    Der Ober kam und nahm ihre Bestellung entgegen. Roberto fühlte sich gut, achtsam, lebendig.
    »Gestern Abend hat Giacomo mich gefragt, ob ich einen Polizisten kenne. Ich fragte ihn, warum, und er antwortete, dass ein Mädchen aus seiner Klasse in Gefahr sei. Jemand will ihr etwas antun, und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann, sagte er.«
    »Was für eine Art von Gefahr?«
    »Es sieht so aus … es sieht so aus, als wollten ihre Klassenkameraden, oder vielleicht auch ältere Jungs, sie zum Geschlechtsverkehr zwingen.«
    »Aus welcher Quelle kommt das?«
    Er merkte, dass er sich ausdrückte wie auf einer Einsatzbesprechung.
    »Ich meine: Woher weiß er das?«
    »Er sagt, in der Schule werde darüber geredet.«
    »Aber hat er mit diesem Mädchen gesprochen? Hat sie sich ihm anvertraut, ihm irgendetwas gesagt?«
    »Das ist ja das Problem.«
    »Welches Problem?«
    »Er sagt, sie habe ihn um Hilfe gebeten, aber …«
    »Aber?«
    »Aber sie hat ihn im Traum um Hilfe gebeten.«
    »Wie bitte?«
    »Genau so: Das Mädchen hat ihn im Traum um Hilfe gebeten. Aber er sagte das auf eine Weise, die so echt klang, dass ich dachte, ich müsse etwas tun. Ich sagte mir, dass ich doch einen Polizisten kenne, ich meine, einen Carabiniere, und dass es nichts kostet, wenn man sich unterhält, und dass ich beruhigt wäre, wenn ich die Meinung von jemandem einholen könnte, der … ich meine, von jemandem wie dir. Ich hatte auch daran gedacht, den Doktor zu fragen – ich habe ihm so oft von Giacomo erzählt –, aber dann wurde mir klar, dass ich lieber mit dir sprechen würde.«
    Roberto ließ ein paar Minuten verstreichen und versuchte, die Geschichte genauer zu fokussieren. Ohne Erfolg.
    »Sagtest du, dass sie in dieselbe Klasse gehen?«
    »Ja.«
    »Hat Giacomo versucht, mit ihr zu sprechen?«
    Emma schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln, wobei sie die Arme ausbreitete.
    »Na gut«, sagte er schließlich, »lass mich mit dem Jungen reden, wir werden sehen, was dabei herauskommt.«
    »Wenn du willst, können wir gleich zu uns nach Hause gehen.«
    »Gehen wir.«

26
    Das Erste, was Roberto auffiel, war der Geruch. Er war nicht gut darin, Gerüche zu benennen – wer ist das schon? –, aber in dieser Wohnung roch es angenehm trocken und sauber.
    Sie betraten ein Wohnzimmer mit einem Tisch, einem großen Fernseher, einem Bücherregal, frischen Blumen in einer großen, bunten Plastikvase, einer schönen, alten Ledercouch und Drucken und Schwarzweißfotos an den Wänden. Roberto verspürte den starken Wunsch dazuzugehören, ein Teil dessen zu sein, was er hier sah, und zugleich überkam ihn das schmerzliche Gefühl, es nicht wert zu sein und für immer ausgeschlossen zu bleiben.
    »Giacomo ist in seinem Zimmer, ich gehe ihn holen.«
    Als er allein war, ertappte Roberto sich dabei, wie er etwas tat, was ungewöhnlich für ihn war: Er betrachtete die Bücher im Regal. Vor ein paar Wochen noch hätte er sie nicht einmal bemerkt. Jetzt erregten sie seine Neugier. Er holte eines heraus, untersuchte es vorsichtig, so als müsse er sich erst noch damit anfreunden, und stellte es dann zurück; dasselbe tat er mit einem anderen Buch und dann mit noch einem. Er hielt gerade eines in der Hand, dessen Titel seine Aufmerksamkeit erregt hatte – Herz der Finsternis –, als Emma wieder ins Zimmer kam. Hinter ihr tauchte ein schmaler Junge mit dunklen Augen auf.
    In

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