In der Glut der Leidenschaft
»Ja.«
Kapitel 36
Er suchte nach einem Halt wie der halb nackte Junge, der durch die Straßen lief und nach seiner Mutter suchte. Er zupfte an der Kleidung von Fremden, ließ einige Geldtaschen mitgehen und griff... und griff... und konnte nichts festhalten. Alles glitt ihm wie Sand durch die Finger, während ihn der Schmerz tiefer in den dunklen Abgrund zog.
Freiheit... Er bewegte sich und fühlte Pein, krümmte sich und schrie, ohne zu begreifen, dass er seine eigene Stimme hörte. Der Sog trug ihn mit sich, weg von dem Schmerz und weg von ihr...
Frieden fand er nur darin, dass sie in Sicherheit war, weit weg von dem allen hier, und ihn nicht so erniedrigt sah. Für eine letzte Berührung und ein letztes Lächeln von ihr hätte er sein Leben hingegeben. Er hätte sogar auf seinen Stolz verzichtet, hätte er wiederfinden können, was er mit schroffen Worten und harten Forderungen zerstört hatte. Was bin ich doch zu einem abscheulichen Wesen geworden, dachte er und ließ sich in den Abgrund sinken. Viel zu spät hatte er erkannt, dass er ohne sie gar nichts war.
Michaela schwankte zwischen Entschlossenheit, Zorn und Schmerz. Wenn sie sich auf einen Plan konzentrierte, wie sie unbemerkt nach England zurückkehren und zu Nickolas gelangen konnte, wanderten ihre Gedanken stets zu Rein. Sein Bild brachte Liebe und Kummer mit sich, und erneut setzten Bedauern und Schmerz ein. Was ist bloß aus mir geworden?, dachte sie.
Es klopfte. Michaela wischte sich über die Wangen und antwortete. Sie rechnete mit Cabai und sah zu ihrer Überraschung Temple. Er kam herein und nahm den Dreispitz vom Kopf. Seit Tagen hatte sie ihn nicht gesehen, weil sie niemandem ihre Stimmung zumuten wollte.
»Wir nähern uns Marokko.«
Sie holte tief Atem, stand vom Bett auf und blickte aus dem Fenster. Rein war dort auf seiner Suche unterwegs. »Ihr braucht meinetwegen die Fahrt nicht zu unterbrechen. Wünschte mein Gemahl meine Gesellschaft, hätte er danach verlangt.«
Temple hörte den Schmerz in ihrer Stimme und überbrachte ihr nur ungern eine schlechte Nachricht. »Die Empress liegt im Hafen. Unter Bewachung.«
Leichenblass sank sie auf die Bank. »Was ist geschehen?«
Man sah ihm an, dass er keine Ahnung hatte. »Die Mannschaft hält sich an Bord auf, und auf dem Pier lagern Soldaten.«
»Also dürfen sie nicht an Land. Habt Ihr Rein gesehen?«
»Nein, und ich war zweimal im Ausguck.« Er streichelte Rahjin, die schnurrend um seine Beine strich.
Michaela erhob sich. »Wie lange würden wir bis in den Hafen brauchen?«
»Vielleicht vier Stunden.«
»Ihr hattet ohnedies vor einzulaufen.« Sie wären sonst der Küste nicht so nahe gewesen.
»Ich dachte, wenn Ihr vielleicht ... wenn ihr miteinander ...«Er wich ihrem Blick aus.
»Temple, in Eurer Brust schlägt das Herz eines Romantikers!«
Er lächelte verwegen. »Verratet es nicht. Ich würde alles abstreiten. Schließlich muss ich meinen Ruf wahren.«
»Nach allem, was ich gehört habe, könnt Ihr auf Euren Ruf nicht stolz sein.«
»Was meint Ihr, was wir machen sollen?«
»Ihr fragt mich ?«, erkundigte sie sich erstaunt. »Ihr habt hier einst gelebt.«
»Als Kind, aber...«
Er verschränkte die Arme. »Sind dem Schutzengel die Ideen ausgegangen?«
Die herausfordernden Worte trafen ihr Ziel. »Legt am östlichen Ende des Hafens an, weit weg von der Empress. Niemand soll das Schwesterschiff erkennen.« Sie trat zu Vivas Bündel und öffnete es. »Haben wir Marokkaner an Bord?«
»Zwei, glaube ich.«
»Gut. Sagt ihnen, was wir wissen, und schickt sie an Land, damit sie sich umhören.«
Temple lächelte. Während sie in der Kabine die Pistolen bereitlegte und ihre Sachen zusammensuchte, sah er förmlich, wie hinter ihrer Stirn ein Plan entstand.
Michaela fasste in den Sack, den Aurora ihr gegeben hatte. Schon vor Tagen hatte sie die schwarze Phiole aus dem Fenster geworfen, Kamm, Bürste und Toilettenartikel benützt, die Beutel mit Kräutern und das Geld jedoch nicht angefasst. Bis jetzt. Vielleicht war da genug ... Sie hielt den Atem an, als in ihre Handfläche schimmernde Goldsovereigns und funkelnde Edelsteine glitten. »Ach, und das soll nicht viel sein«, murmelte sie. Was hielt diese Frau denn für ein Vermögen? »Gebt das den Marokkanern.« Sie warf Temple eine Münze zu. Er fing sie in der Luft auf. »Mietet eine Kutsche, eine feine«, fuhr sie fort und holte das Kleid aus dem Sack. Ach, Viva, dachte sie. Nie zuvor hatte sie
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