In der Hitze der Nacht
die Familie aufnehmen und ihr all das geben, was sie in ihrem Leben noch nie gehabt hat. Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Familie. Die darf man ihm nicht nehmen. Ihre Mutter hat das nicht verstanden.«
»Das hört sich großartig an«, sagte Mar, und sie lächelte leicht. »Als wäre das alles ganz uneigennützig geschehen. Aber haben Sie dabei nicht eine Kleinigkeit vergessen?«
Tinas Großmutter preßte die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren.
Mars Lächeln wurde nun ebenfalls grimmig. »Sie haben es natürlich nicht vergessen, Sie haben das von Anfang an fein säuberlich geplant, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Tinas Großmutter ging energisch an Mar vorbei. »Und jetzt bitte ich Sie zu gehen«, warf sie über die Schulter zurück. »Afra wird Ihnen den Weg zur Tür zeigen.«
»Sie können mich hinauswerfen«, sagte Mar, »aber Sie können die Tatsachen nicht hinauswerfen. Und die werde ich Tina jetzt mitteilen. Schließlich betrifft es ja sie.«
Tinas Großmutter blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Sie verstehen gar nichts«, sagte sie. »Diese Familie hat eine Tradition, eine Verpflichtung, eine Verantwortung. Nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch anderen. Der Gesellschaft gegenüber. Dieser Verantwortung können wir uns nicht entziehen. Wir müssen sie tragen, so schwer es auch fällt.«
»So schwer wiegt Geld nicht«, erwiderte Mar trocken. »Deshalb wollten Sie es ja haben. Und Tina vorenthalten.«
Nun drehte sich Tinas Großmutter doch um. »Sie ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht«, sagte sie hart. Ihre Augen blitzten wie eisige Kristalle, »und sie ist auch ein Nichts. Ihre Mutter hat sie dazu gemacht. Sie hat nichts mit unserer Familie zu tun, sie weiß nicht, was es bedeutet, eine Bauer zu sein. Auch wenn unser Blut in ihr fließt. Ich wollte nur das aus ihr machen, wofür sie geboren ist, auch wenn sie nie dafür ausgebildet wurde. Damit sie der Verantwortung dann gewachsen ist, wenn es von ihr verlangt wird. Das ist keine Bürde, die ein Mensch ohne Ausbildung tragen kann.«
Mar lachte leicht. »Sie sind doch nicht das englische Königshaus. Sie sind nur eine Familie mit Besitz – mit Geld. Und das hat Tina geerbt. Ich glaube nicht, daß sie diese Bürde nicht tragen kann. Sie ist ein ausgesprochen bodenständiger Mensch. Sie wird es schon schaffen.«
Die Mundwinkel der alten Frau zuckten. »Ich kann Sie ohnehin nicht daran hindern, es ihr zu sagen«, entgegnete sie. »Jetzt, wo Sie es wissen. Der Pöbel kann solche Dinge nie für sich behalten. Sie wissen nicht, was Verantwortung bedeutet.«
Mars Augenbrauen hoben sich amüsiert. »Es tut mir leid, daß ich Ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht werde. Aber für mich bedeutet Verantwortung wohl etwas anderes als für Sie. Es bedeutet vor allem, sich an die Gesetze zu halten.«
»Gesetze.« Frau Bauer spuckte das Wort förmlich aus. »Auch so eine Erfindung des Pöbels. Früher hat es so etwas nicht gebraucht. Da wußte jeder, wo sein Platz war.«
»Zur Zeit der Leibeigenschaft, meinen Sie? Im Mittelalter?« Mar lachte noch einmal auf. »Sie können die Uhr nicht zurückdrehen. Als Tinas Anwältin habe ich die Pflicht, ihre Interessen bestmöglich zu vertreten. Und das tue ich jetzt. Entschuldigen Sie mich bitte.« Sie ging auf die altertümliche Fenstertür zu, die in den Park führte, der ans Haus anschloß, öffnete sie und trat hinaus.
Draußen angekommen atmete sie tief durch. Tina hatte sich wirklich eine schöne Familie ausgesucht. Suchend schweifte ihr Blick über die Wiese hinunter zum See.
Das Grundstück war so weitläufig, daß zuerst einmal nichts zu erkennen war außer Wasser, Bäumen und niedrigen Sträuchern. Die Wiese zog sich wie ein grünes Tal dahin, man hätte einen Golfplatz darauf anlegen können.
Langsam ging sie los, zum See hinunter. Im Gegensatz zu dem harten Kampf, den sie sich mit Tinas Großmutter geliefert hatte, war ihr jetzt gar nicht nach Härte zumute. Im Gegenteil. Ihre Gedanken wurden sanfter und sanfter, je länger sie an Tina dachte.
Kathrin hatte recht gehabt. Sie hatte sich in Tina verliebt, vor langer Zeit wahrscheinlich schon, bei ihrer ersten Begegnung. Sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen.
Aber was nützte das alles, seit Tina ihr gesagt hatte, daß sie sie nicht liebte? Und es hatte so geklungen, als ob sie diese Möglichkeit auch für die Zukunft ausschlösse. Eine Beziehung war für sie undenkbar, wenn keine Liebe
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