In der Hitze der Nacht
fragte Gerlinde. »Für sie hat sich alles verändert. Du bist immer noch die gleiche. Das könnte sie erschrecken.«
»Diskutier niemals mit einer Psychiatriekrankenschwester«, sagte Mar und lachte.
»Ja, ich weiß«, gab Gerlinde zu, »es ist eine Berufskrankheit. Aber ich habe vieles gesehen, und ich kann dir nur sagen: Du steckst nicht in den Menschen drin. Da ist eine Menge los zwischen den beiden Ohren, von dem wir oft nichts ahnen.«
Mar wurde nachdenklich. »Ich würde gern wissen, was da bei ihr los ist«, sagte sie. »Ihre Reaktionen waren manchmal – schwer erklärbar.«
»Und sie wird sie dir nie erklären können, wenn du sie nicht fragst«, sagte Gerlinde. »Also tu es oder laß es, aber schließ die Sache ab.« Sie stand auf. »Und jetzt gehst du mit mir Mittagessen. Und du bezahlst.« Sie lachte. »Das ist nicht zuviel verlangt für eine Beratungsstunde, oder?«
Mar schmunzelte. »Nein, ist es nicht. Ohne dich würde ich nie etwas Richtiges zu essen bekommen.«
»Ohne mich und ohne Frau Ritter«, sagte Gerlinde. »Also dir fehlt entschieden eine Frau, wie du siehst.«
Mar grinste schief. »Wenn du es sagst . . .«
»Hast du noch nie meine Kolumne gelesen? Fragen Sie Frau Gerlinde? « Gerlinde lachte. »Und jetzt komm. Mein Magen knurrt.«
30
T ina schlenderte durch die Stadt und blieb vor verschiedenen Schaufenstern stehen. Sie betrachtete die Auslage, ging aber nicht hinein.
Sie seufzte auf. Sie hätte sich alles kaufen können, selbst in den teuersten Geschäften, aber einkaufen war noch nie eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen.
»Mal wieder auf der Suche nach einem Bürokostüm?«
Der Klang der Stimme ließ sie erstarren. Sie wagte nicht sich umzudrehen. Doch das brauchte sie auch nicht. Genevièves Gesicht näherte sich ihrem im Fensterglas, bis sie dicht neben ihr stand.
»Lange nicht gesehen.« Geneviève lächelte dieses raubtierhafte Lächeln, das so anziehend an ihr war – wenn man nicht wußte, daß es ihre wahre Natur offenbarte.
»Ich –« Tina räusperte sich. »Nein. Ich gucke nur so rum. Ich brauche nichts zum Anziehen.«
Geneviève musterte ihre Gestalt, wie sie es immer getan hatte, bevor sie sie auszog. »Hm«, sagte sie. »Das sieht neu aus. Ist nicht von mir.«
»Nein.« Nun drehte Tina sich doch zu ihr. »Ich habe es am Starnberger See gekauft. Soviel ich gesehen habe, hast du dort keine Filiale.«
»Mich interessieren nur große Städte.« Geneviève verzog abschätzig das Gesicht. »In kleinen Orten macht man nicht viel Umsatz.« Sie lächelte erneut. »Aber wenn du auf Einkaufstour bist, könnte ich dich zu meiner Filiale hier in Köln mitnehmen. Sie haben bestimmt etwas für dich.« Ihre Lippen zuckten. »Etwas nicht zu Teures.«
Endlich hatte Tina den ersten Schock überwunden. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht belustigt. »Das ist kein Thema mehr für mich.«
Genevièves Blick wanderte zu Tinas Hand, auf der Suche nach einem Ring. »Hast du reich geheiratet?«
Tina schüttelte den Kopf. »Nein, reich geerbt.«
»Geerbt?« Die Überraschung ließ Genevièves Augen großwerden. »Von wem? Sagtest du nicht, du hast keine Familie? Außer deiner durchgeknallten Mutter? Und die sah mir nicht nach Geld aus.«
»Sie legt keinen Wert darauf«, sagte Tina, »genausowenig wie ich.« Sie löste sich aus Genevièves Schatten und ging weiter durch die Fußgängerzone in Richtung Dom.
»Sie ist also gestorben?« Etwas Unglaubliches passierte: Geneviève kam Tina hinterher.
»Nein«, Tina schüttelte erneut den Kopf, »aber ihr Vater. Mein Großvater – von dem ich nichts wußte.«
Geneviève blieb still, was so ungewöhnlich erschien, daß Tina zu ihr hinübersah. Komisch, dachte sie. Da ist nichts mehr. Ich sehe sie, und nichts regt sich in mir. Kein Verlangen, keine Sehnsucht – noch nicht einmal Trauer.
Ihr Herz hatte für einen Moment schneller geschlagen, vor Überraschung, als Geneviève erschienen war, aber das war auch alles.
Sie spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. Ein ganz neues Gefühl in Genevièves Gegenwart. Bisher hatte es keinen Augenblick mit Geneviève gegeben, der nicht von Spannung erfüllt gewesen wäre.
»Hast du viel geerbt?« fragte Geneviève. »Oder hat es nur gerade einmal für dieses Kleid gelangt?« Ihre Mundwinkel zuckten erneut mutwillig.
»Es würde für wesentlich mehr langen, wenn ich das wollte«, sagte Tina. »Aber ich brauche nichts.«
Geneviève legte leicht den Kopf schief, während sie
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