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In der Hitze der Stadt

In der Hitze der Stadt

Titel: In der Hitze der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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noch ein paar »Du Schofseckel!« im Schwall der Wörter mitgeschwommen, wie krude Baumstämme im dreckigen Rhein nach einem Gewitter, er hätte auf eine beginnende Schlägerei getippt. Der Lärm, dem er jetzt ausgesetzt war, war jedoch anders. Er hatte unaufdringlich begonnen, war stufenlos angeschwollen, nahm noch immer weiter zu. Baumer hörte Leute, die in immer größerer Anzahl aufgeregt durcheinanderriefen, irgendetwas bestürzt zu kommentieren schienen.

    Dann.

    Dieser irre Schrei.

    Eine Frau! Sie schrie sich ihre Seele aus dem Leib. Zugleich verstummte das Publikum. Baumer krallte seine Hände um die Stuhllehne, war erschrocken wie ein Kind beim Kasperlitheater, wenn das Krokodil mit riesigem Maul aus dem Kasten springt.
    Dann nochmals dieser Schrei, gefolgt von einem einzelnen Wort, immer und immer wieder herausgebrüllt.

    »Mina!«

    »Mina!«

    Baumer hätte aufspringen, sich in Kleider stürzen, auf die Straße rennen müssen. Da sein müssen für die Frau, hätte Polizist und Kommissar sein sollen.
    Er konnte nicht.
    Kerzengerade und starr saß er in seinem Stuhl, die Finger um die Stuhllehnen gekrallt, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Er realisierte verwundert, dass er seine Hände nicht bewegen, nicht lösen konnte. Erstaunt und überrascht zugleich nahm er wahr, dass auch seine Gedanken mit ihm machten, was sie wollten. Irgendetwas redete ihm ein, dass hier keine Erste Hilfe mehr nützen würde, dass er nichts mehr tun konnte für diese Frau, diese Mutter, und für ihr Mädchen, das sie unaufhörlich und wie irre beschrie.
    Endlich übernahm das logische Denken das Sagen, befahl ihm, sich aus seiner Fixierung zu lösen. Ferngesteuert, mechanisch, erhob er sich, doch er schaffte es nicht bis ans Fenster zur Straße. Andi Baumer konnte nur sein Mobiltelefon greifen und die Nummer des Notrufs eintippen. Als die Verbindung stand, meldete er sich zügig: »Andreas Baumer hier. Ein Mädchen ist schwer verletzt. Ecke Hochstraße und Zwingerstraße.« Obwohl er es besser zu wissen glaubte, hatte er nicht von einer Toten, sondern von einer Schwerverletzten gesprochen. So würden sie nicht lange fackeln und schnell kommen.
    »Wie ist doch gleich der Name?«
    »Andreas Baumer.«
    »Sind Sie der Autofahrer?«
    »Nein, ich wohne an der Hochstraße.«
    »Sie haben einen Unfall gesehen?«
    Nein, er hatte keinen Unfall gesehen und wusste doch, dass Mina umgekommen war. Wie sie getötet wurde, das konnte er nicht wissen. Doch, wenn er jetzt sagte, er habe nichts gesehen, nur etwas gehört, dann würde es ewig dauern, bis sie kämen. Also wiederholte er: »Ein Mädchen ist schwer verletzt und braucht sofort Hilfe. Ecke Hochstraße und Zwingerstraße.« Er legte auf.
    Nachdem die Sanität alarmiert war, befahl ihm sein Gehirn, auf die andere Seite der Wohnung zum Fenster zu gehen, um endlich zu schauen, was passiert war. Wieder gehorchte sein Körper nicht. Er blieb wie gelähmt im Zimmer stehen, hörte, wie die erschütterten und erregten Stimmen erneut wellenartig hoch- und niedergingen, darin eingefangen das animalische Wehklagen der Mutter.
    »Geh helfen!«, schrie er sich an.
    Es nützte einfach nichts. Er stand ohne Macht über irgendetwas im Raum. Zitterte er?
    Als sein Körper endlich seinem Willen gehorchte, nahm er zugleich die rasch näher kommende Sirene einer Polizeipatrouille wahr, die immer lauter in das mittlerweile leisere, fast harmonische Wehklagen der Frau einbrach. Er hielt inne. Seine Kollegen waren in Erster Hilfe ausgebildet, hatten sicherlich viel mehr Erfahrung darin als er. Wenn er hätte helfen wollen, kam er jetzt zu spät.
    Mit der Fähigkeit zu reagieren überkam ihn zugleich Scham. Scham, dass er als Freund und Helfer versagt hatte. Es belastete ihn außerordentlich, dass er nicht sogleich auf die Straße geeilt war. Daher redete er sich ein, dass die Patrouille jetzt ja da war und rettete, was es noch zu retten gab.

    Es gab nichts zu retten.

    Diese Mina musste tot sein. Zu schrecklich war der Schrei ihrer Mutter gewesen, zu hoffnungslos ihr Wehklagen. Zwar hoffte Baumer inständig, dass es ein älteres Kind war, das umgekommen sein musste. Eine Jugendliche, dann wäre alles nicht ganz so schlimm.
    Aber dennoch.
    Ein junger Mensch lag da, vielleicht verstümmelt, entsetzlich blutend, ja verblutend. Obschon er keinen scheppernden Krach gehört hatte, nahm er instinktiv an, dass es nur ein Autounfall gewesen sein konnte. Viele Fahrer auf ihrem Weg zur nahen Autobahn scherten

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