In der Kälte der Nacht
wieder klar denken konnte. Sie verließ das Kirchenschiff und betrat den Vorraum, der durch eine Glaswand abgeteilt war. Ihr fiel auf, daß eine der Türen, die nach draußen führten, fehlte. Sie war herausgenommen worden, die leeren Angeln waren zu sehen. Dann sah sie das Werkzeug, das am Boden lag. Der Handwerker, so vermutete Rya, war etwas holen gegangen. Sie wandte sich um und betrachtete das Kruzifix. Sie kniete sich hin und nahm einen schweren Schraubenschlüssel aus der offenen Werkze ugkiste. Sie spürte die Augen des Gekreuzigten auf sich ruhen. Traurige hölzerne Augen. Sie ließ den Schraubenschlüssel in ihre Jackentasche gleiten und verließ die Kirche. Um 12 Uhr 35 schlenderte sie am Rathaus entlang, das sich auf der Nordostseite des Platzes befand. Das Büro des Polizeichefs war im ersten Stock, es hatte zwei große Fenster. Die Blenden waren hochgezogen. Als sie an den Fenstern vorbeiging, sah sie Bob Thorp. Er las in einem Magazin und aß ein Brötchen. Um 12 Uhr 40 stand sie vor Ultman's Cafe. Eine Schar Kinder war auf Fahrrädern unterwegs zu der gepflasterten Straße am nördlichen Ende der Union Road, wo jeden Freitag ein Fahrradrennen veranstaltet wurde. Einer der Jungen in der Schar war Jeremy Thorp. Es war 12 Uhr 45 geworden, als Rya die Union Road am nördlichen Ende überquerte. Wenig später hatte sie den Bungalow des Polizeichefs erreicht. Sie umrundete das Gelände. Die Wiese, die das Haus umgab, ging in einiger Entfernung in niedriges Buschwerk über. Das Haus war das letzte in der Reihe, es gab keine weiteren Parallelstraßen. Rya sah die Garage, dann den Fluß. Im Schutz der Bäume und Büsche schlich sie sich bis zum Eingang des Hauses. Die Tür. Ein kupferner Türknauf. Drei schmale Scheiben aus farbigem Glas, 15 Zentimer breit, 22 Zent imeter lang. Sie klopfte an. Drinnen rührte sich nichts. Sie drehte am Türknauf. Die Tür war verschlossen. Rya hatte nichts anderes erwartet. Sie zog den Schraubenschlüssel aus der Tasche, den sie in der Kirche gestohlen hatte, und zerschlug die mittlere Scheibe. Das Geräusch des zersplitternden Glases war lauter, als sie vorausgesehen hatte, aber nicht so laut, daß Rya deswegen ihr Vorhaben aufgegeben hätte. Sie entfernte die restlichen Splitter, diein der Füllung steckten, und griff durch die Öffnung. Sie ertastete das innere Gegenstück des Knaufs und drehte den Ring in beiden Öffnungen. Die Tür schwang auf. Sie trat ein und zog die Tür wieder hinter sich zu. Sie blieb im Flur stehen und starrte auf die Schatten, die sich auf dem Küchenboden abmalten. Was mache ich, wenn sie zurückkommen und mich überraschen? Ich muß jetzt Mut haben, redete sie sich ein. Vorwärts! Ich muß es tun, ehe ich mein Selbstvertrauen verliere. Ich habe Angst. Sie haben Mark getötet. Heute morgen bist du weggerannt. Wirst du jetzt wieder wegrennen? Wirst du bis zum Ende deines Lebens vor allem wegrennen, was dir Angst macht? Sie überquerte die Schwelle zur Küche. Sie blieb vor dem Herd stehen. Hier hatte der Mord stattgefunden. Mark war gegen den Herd geschleudert worden, bis... Rya warf einen Blick in die Runde. Die Tür. Die Fenster. Geräusche? Nein. Nichts. Nur das gleichmäßige Summen des Kühlschranks und der Gefriertruhe. Oder? Da war noch etwas anderes. Das Radio. Der Lautsprecher war ausgeschaltet, aber es gab ein eingebautes Uhrwerk, das ein leises Summen verursachte. Rya schrak zusammen, als ein Fensterladen an die Hausfront schlug. Der Wind. Unmittelbar darauf das Dröhnen eines Gongs. Sie starrte auf die Großvateruhr im Wohnzimmer. Die Uhr ging ein paar Minuten nach, trotzdem war die Viertelstunde angeschlagen worden. Das Dröhnen hallte nach, als sei der Klang im Glasgehäuse gefangen. Ein Haus voller Geräusche, aber diese Geräusche hatten keine menschliche Ursache. Ich bin allein. Ich habe das Gesetz gebrochen. Ich bin in ein fremdes Haus eingedrungen. Was nun? Wenn ich... Ich habe mich in Gefahr begeben. Jetzt muß ich... Sie mußte das Haus durchsuchen. Natürlich. Deshalb war sie ja gekommen. Sie würde das Haus bis in den letzten Winkel durchsuchen. Sie würde nach der Leiche ihres Bruders suchen. Wo anfangen? Sie stand da und grübelte, bis ihr klar wurde, daß ihre Unentschlossenheit eine Folge der Angst war. Es war die Angst, die ihr den Gedanken eingab, daß es unmöglich sein würde, dem Polizeichef von Black River einen Mord nachzuweisen. Angst. Sie war entschlossen, diese Angst zu überwinden. Nicht vor Mr. Thorp habe ich
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