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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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den Zettel war eine Adresse gekritzelt: 1417 Blue Hill Ave. Das war alles – kein Name, keine Telefonnummer, nur die Adresse.
    »Tu mir den Gefallen. Nur dieses eine Mal, mehr verlange ich überhaupt nicht.«
    »Und wenn ich nicht mitspiele?«, sagte Joe.
    Die Frage schien Maso ernsthaft aus dem Konzept zu bringen. Er wiegte den Kopf hin und her, und während er Joe ansah, spielte ein kleines sonderbares Lächeln um seine Lippen. Dann wurde das Lächeln immer breiter und verwandelte sich in ein leises Lachen. Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, ehe er Joe mit zwei Fingern einen militärischen Gruß entbot und zu seinen Männern ging, die an der Mauer auf ihn warteten.
    Thomas Coughlin sah seinem Sohn entgegen, als dieser in den Besucherraum hinkte und ihm gegenüber Platz nahm.
    »Was ist passiert?«
    »Irgend so ein Arschloch hat mir einen Kartoffelschäler ins Bein gerammt.«
    »Warum?«
    Joe schüttelte den Kopf. Als er die Hand über den Tisch gleiten ließ, sah Thomas das Stück Papier darunter. Er legte seine Hand auf die seines Sohnes, kostete die Berührung aus und fragte sich, weshalb er über ein Jahrzehnt davor zurückgeschreckt war. Er nahm den Zettel und steckte ihn ein. Er betrachtete seinen Sohn, mutlos und mit dunklen Ringen unter den Augen, und plötzlich dämmerte ihm, worum es ging.
    »Ich soll jemandem eine Gefälligkeit erweisen«, sagte er.
    Joe blickte auf.
    »Wem, Joseph?«
    »Maso Pescatore.«
    Thomas lehnte sich zurück und fragte sich, wie weit die Liebe zu seinen Sohn tatsächlich reichte.
    Joe konnte an seiner Miene ablesen, was in ihm vorging. »Jetzt versuch bloß nicht, mir zu verklickern, du wärst sauber, Dad.«
    »Ich mache legale Geschäfte mit zivilisierten Menschen. Und du verlangst von mir, dass ich mich unter die Knute von einer Bande Itakern zwingen lasse, die vor zwanzig Jahren noch in Höhlen gelebt haben.«
    »Darum geht’s doch gar nicht.«
    »Ach, nein? Was steht auf dem Zettel?«
    »Eine Adresse.«
    »Bloß eine Adresse?«
    »Ja. Ich weiß auch nicht mehr.«
    Sein Vater nickte mehrmals und atmete geräuschvoll aus. »Weil du ein Kindskopf bist. Irgendein Spaghettifresser gibt dir eine Adresse, die du an deinen Vater weiterreichen sollst, der ganz zufällig ein hochrangiger Polizeibeamter ist – und du kapierst nicht, dass es sich bei dieser Adresse nur um das Nachschublager eines Rivalen handeln kann.«
    »Um was?«
    »Höchstwahrscheinlich ein Lager, das bis zum Dach mit hochprozentigem Sprit gefüllt ist.« Sein Vater warf einen Blick zur Zimmerdecke und fuhr sich mit der Hand über die kurzgeschnittenen grauen Haare.
     »Er hat gesagt, nur dieses eine Mal.«
    Sein Vater bedachte ihn mit einem höhnischen Lächeln. »Und du hast ihm geglaubt.«
    Thomas verließ das Gefängnis.
    Beißender Chemiegestank stieg ihm in die Nase, als er den Weg zu seinem Wagen hinunterging. Rauch stieg aus den Fabrikschornsteinen; die Schwaden waren dunkelgrau, färbten aber den Himmel braun und die Erde schwarz. Züge ratterten über die unweit entfernten Gleise. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erinnerten sie Thomas an Wölfe, die um ein Feldlazarett herumschlichen.
    Im Lauf seiner Karriere hatte er mindestens tausend Männer hinter ebendiese Gitter geschickt. Viele davon waren hinter ebendiesen Mauern gestorben. Wer hier mit Illusionen über menschlichen Anstand und Würde einfuhr, wurde in null Komma nichts eines Besseren belehrt. Es gab zu viele Gefangene und zu wenig Wärter, um aus dem Gefängnis etwas anderes zu machen, als es tatsächlich war – eine Müllhalde und nicht zuletzt eine Brutstätte für Ungeheuer. Wer diesen Ort als Mensch betrat, verließ ihn als Bestie. Wer ihn als Bestie betrat, konnte das Tier in sich erst so richtig herauslassen.
    Er fürchtete, dass sein Sohn zu weich war. Trotz all seiner Verfehlungen, seinem Widerspruchsgeist, seiner Unfähigkeit, sich seinem Vater oder irgendwelchen Regeln zu beugen, war Joseph der offenste, freimütigste seiner Söhne. Selbst der dickste Wintermantel konnte sein Herz nicht verbergen.
    Gleich neben seinem Wagen stand eine Notrufsäule. Der Schlüssel dazu hing an seiner Uhrkette; er steckte ihn ins Schloss und öffnete die Klappe. Abermals warf er einen Blick auf den Zettel in seiner Hand: 1417 Blue Hill Avenue in Mattapan. Da, wo die Juden wohnten. Was bedeutete, dass das betreffende Lagerhaus wahrscheinlich Jacob Rosen gehörte, einem aktenkundigen Lieferanten Albert Whites.
    White war mittlerweile wieder

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