In der Nacht (German Edition)
Besser, wenn er nicht länger stur auf seinen Grundsätzen beharrte.
Die Kunst des Alterns bestand darin, dem Neuen so elegant wie möglich Platz zu machen – am Ende wurde man so oder so beiseitegedrängt.
Er rief Kenny Donlan an, den Captain des Third District von Mattapan. Kenny war fünf Jahre lang sein Lieutenant im Sechsten Revier in Südboston gewesen. Wie eine ganze Reihe anderer leitender Beamter des Departments hatte er seine Karriere Thomas zu verdanken.
»Selbst am freien Tag im Dienst«, sagte Kenny, als Thomas von seiner Sekretärin durchgestellt worden war.
»In unserem Job gibt es keine freien Tage, mein Lieber.«
»Wohl wahr«, sagte Kenny. »Was kann ich für dich tun, Thomas?«
»1417 Blue Hill Avenue«, sagte Thomas. »Das ist eine Lagerhalle, in der sich angeblich jede Menge Spielhöllenkram befindet – einarmige Banditen und das übliche Zeugs.«
»Aber von wegen«, sagte Kenny.
»Genau.«
»Sollen wir den Laden so richtig auseinandernehmen?«
»Bis zur letzten Flasche«, sagte Thomas, und irgendetwas in ihm schien ein letztes Mal aufzuschreien, bevor es starb. »Bis zum letzten Tropfen.«
8
Zwielicht
In jenem Sommer wurde im Zuchthaus von Charlestown die Hinrichtung zweier berühmter Anarchisten in die Wege geleitet. Auch weltweite Proteste konnten den Commonwealth of Massachusetts nicht von seinem Vorhaben abbringen, ebenso wenig wie eine Flut von Gnadengesuchen und Anträgen auf Hinrichtungsaufschub. Nachdem Sacco und Vanzetti von Dedham in den Todestrakt des Charlestown Penitentiary verlegt worden waren, wurde Joe jede Nacht von Scharen empörter Bürger aus dem Schlaf gerissen, die auf der anderen Seite der Granitmauern demonstrierten. Manchmal hielten sie dort die ganze Nacht aus, sangen Lieder, brüllten durch Megaphone und skandierten ihre Parolen. Mehrmals argwöhnte Joe, dass sie Fackeln mitgebracht hatten, da er den Gestank von brennendem Pech in der Nase hatte, wenn er einmal mehr aus dem Schlaf schreckte.
Doch abgesehen von ein paar Nächten unruhigen Schlafs hatte das Schicksal der beiden zum Tode Verurteilten keinerlei Auswirkungen auf sein Leben oder das irgendeines anderen Insassen – abgesehen von Maso Pescatore, der auf seine nächtlichen Spaziergänge auf den Gefängnismauern verzichten musste, solange die Augen der Welt auf das Zuchthaus von Charlestown gerichtet waren.
In jener geschichtsträchtigen Nacht im August zog der elektrische Stuhl während der Hinrichtung der beiden unglückseligen Italiener so viel Strom ab, dass die Glühbirnen auf den Gängen flackerten und teils ganz verloschen. Die beiden Leichen wurden zum Forest-Hills-Friedhof gebracht und eingeäschert. Immer weniger Demonstranten stellten sich ein, und schließlich war der Spuk vorbei.
Maso nahm seinen nächtlichen Zeitvertreib wieder auf, dem er seit nunmehr zehn Jahren nachging: Er flanierte über die Mauerkronen, entlang des spiralförmig gewundenen Stacheldrahts und der dunklen Wachtürme, die auf den Innenhof und die trostlose Fabriklandschaft jenseits der Mauern hinausgingen.
Häufig ließ er sich dabei von Joe begleiten. Er schien ihn als eine Art Maskottchen zu betrachten – ob nun als Faustpfand, mit dem er einen hochrangigen Polizeibeamten erpresste, als potentielles Mitglied seiner Organisation oder als Schoßhündchen, wusste Joe nicht, und er hakte auch nicht weiter nach. Warum auch, da seine Gegenwart hier oben eine Tatsache ganz klar bewies – dass Maso ihn unter seine Fittiche genommen hatte.
»Glauben Sie, dass die beiden schuldig waren?«, fragte Joe ihn eines späten Abends.
Maso zuckte mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle. Was zählt, ist die Botschaft, die hinter dem Todesurteil steckt.«
»Was für eine Botschaft? Sie haben zwei Männer hingerichtet, die womöglich unschuldig waren.«
»Genau das war die Botschaft«, sagte Maso. »Und jeder auf diesem Planeten mit ähnlichen Ambitionen hat es mitbekommen.«
Das Zuchthaus von Charlestown ertrank in jenem Sommer regelrecht in Blut. Zunächst glaubte Joe, dass die gnadenlose Abschlachterei nur der sinnlosen Brutalität von Männern entsprang, die permanent ihren Platz in der Hackordnung ausfochten und sich dabei gegenseitig an die Gurgel gingen, egal, ob sich nun jemand in einer Schlange vorgedrängelt hatte, einem anderen auf dem Hof im Weg stand oder irgendwem auf die Schuhspitze getreten war.
Wie sich herausstellte, war es um einiges komplizierter.
Ein Häftling im Ostflügel erblindete, als ihm
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