In der Nacht (German Edition)
jemand zwei Handvoll Scherben in die Augen drückte. Im Südflügel fanden Wärter einen Toten, dem jemand ein Dutzend Messerstiche in den Oberbauch verpasst hatte, von denen einer, dem Geruch nach zu urteilen, seine Leber durchbohrt haben musste. Den Gestank hatte man noch zwei Gänge darunter gerochen. Joe hörte von nächtlichen Vergewaltigungspartys im Lawson-Block, der so hieß, weil dort einst drei Generationen der Lawson-Sippe – der Großvater, einer seiner Söhne sowie drei seiner Enkel – zur gleichen Zeit gesessen hatten. Das letzte verbliebene Familienmitglied, Emil Lawson, war damals der Jüngste der Sippe, aber schon immer der Schlimmste von ihnen gewesen. Rauskommen würde er jedenfalls nie mehr: Insgesamt belief sich sein Strafmaß auf einhundertvierzehn Jahre. Schön für die Bürger Bostons, weniger schön für seine Mithäftlinge. Wenn er nicht gerade Gruppenvergewaltigungen von Neuankömmlingen organisierte, übernahm er Auftragsmorde für jeden, der ihn dafür bezahlte, auch wenn gemunkelt wurde, dass er momentan exklusiv für Maso arbeitete – eine Kooperation, der sich ganz offensichtlich auch die aktuellen Gewaltexzesse verdankten.
In diesem Krieg ging es um Rum. Natürlich wurde er zum Unmut der Öffentlichkeit vor allem draußen auf den Straßen geführt, doch eben auch innerhalb der Knastmauern, hinter die niemand einen Blick warf, ganz abgesehen davon, dass sicher niemand eine Träne verdrückt hätte. Albert White hatte beschlossen, nicht mehr nur Whiskey aus dem Norden, sondern auch Rum aus dem Süden zu importieren, bevor Maso Pescatore aus dem Gefängnis entlassen wurde. Tim Hickey war das erste Opfer im White-Pescatore-Krieg gewesen. Doch als sich der Sommer seinem Ende zuneigte, hatte es bereits ein Dutzend Tote gegeben.
In Sachen Whiskey kam es in Boston, Portland und entlang der kanadischen Grenze zu wilden Schießereien. In Städten wie Massena, New York, Derby, Vermont und Allagash, Maine, wurden Fahrer in schöner Regelmäßigkeit von der Straße abgedrängt. Einige kamen mit einer Tracht Prügel davon, andere nicht – einem von Albert Whites schnellsten Fahrern hatten die Italiener in einem Waldstück fein säuberlich den Unterkiefer weggeschossen, weil er frech geworden war.
In Sachen Rum setzten Whites Leute alles daran, den Nachschub zu unterbinden. Lieferungen wurden ebenso unten im Süden wie oben im Norden abgefangen, manchmal bereits in den Carolinas, dann wiederum erst in Rhode Island. Nachdem die Lastwagen zum Halten und die Fahrer zum Aussteigen gezwungen worden waren, steckten Whites Männer die Fahrzeuge in Brand. Die Transporter brannten wie die Boote, mit denen die Wikinger ihre Toten auf die letzte Reise geschickt hatten, und der fahlgelbe Widerschein, der über das nächtliche Firmament tanzte, war noch Meilen weiter zu sehen.
»Er hat irgendwo ein Lager, wo er seinen Sprit bunkert«, sagte Maso auf einem ihrer Spaziergänge. »Er wartet, bis er ganz New England ausgetrocknet hat, und dann spielt er den großen Retter, der endlich wieder für feuchte Kehlen sorgt.«
»Wer wäre denn so blöde, ihn zu beliefern?« Joe kannte die meisten Zulieferer im Süden Floridas.
»Das ist nicht blöde, sondern clever«, sagte Maso. »Ich wüsste jedenfalls, was ich tun würde, wenn ich die Wahl hätte zwischen einem gewieften Hund wie Albert und einem alten Mann, der hier schon sitzt, seit der Zar abdanken musste.«
»Aber Sie haben Ihre Augen und Ohren überall.«
Der Alte nickte. »Aber genau genommen sind es eben nicht meine Augen und meine Ohren. Und wie willst du das Zepter richtig schwingen, wenn dir die Hände gebunden sind?«
An jenem Abend vergnügte sich einer der Wärter, die auf Masos Gehaltsliste standen, in einem Speakeasy im South End und verließ den Laden mit einer Frau, die niemand kannte. Wohl eine echte Augenweide, und definitiv eine Professionelle. Der Wärter wurde drei Stunden später am Franklin Square aufgefunden, mit einem klaffenden Schlitz über dem Adamsapfel und toter als Thomas Jefferson.
Masos Haft endete in einem Vierteljahr, und Albert schien zu spüren, wie ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann – was ihn nur noch gefährlicher machte. Erst in der Nacht zuvor hatte Boyd Holter, Masos bester Fälscher, einen unfreiwilligen Abflug vom Ames Building im Stadtzentrum gemacht und war auf seinem Steißbein gelandet – mit dem Effekt, dass die Splitter seines Rückgrats wie Hagel unter seine Gehirnschale prasselten.
Masos Leute
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