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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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später Handtuch und Seife fallen ließ, sein Gewicht auf das eine Bein verlagerte und nach Joes Kopf ausholte. Joe täuschte einen Ausfall nach rechts an – was der Junge vorausgesehen haben musste, da er in der Bewegung mitging und den Kartoffelschäler stattdessen in die Innenseite von Joes Oberschenkel rammte. Noch ehe Joe den Schmerz überhaupt registrierte, zog der Bursche die Klinge auch schon wieder aus seinem Fleisch – und das Geräusch, das dabei entstand, versetzte Joe in blanke Wut. Es klang, als würden Fischabfälle in einen Abfluss gesogen. Sein Fleisch hing an den scharfen Kanten der Waffe, sein Blut tropfte von der Klinge.
    Mit dem nächsten Hieb zielte der Junge auf Joes Bauch oder auf seinen Unterleib; bei all dem hektischen Hin und Her, Antäuschen und Ausweichen war das schwer zu sagen. Er ging frontal auf den Jungen los, packte ihn am Hinterkopf und rammte sein Gesicht gegen seine Brust. Der Junge stieß abermals mit dem Kartoffelschäler zu und erwischte ihn in der Hüfte, doch diesmal war kaum Schwung in seiner Bewegung, so dass es bloß ein mehr oder minder schwacher Stich war, der trotzdem schlimmer schmerzte als ein Hundebiss. Als er erneut ausholte, warf sich Joe mit seinem ganzen Körpergewicht gegen ihn und knallte seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Granitwand.
    Der Junge gab ein dumpfes Ächzen von sich und ließ den Kartoffelschäler fallen. Um ganz sicherzugehen, knallte Joe seinen Kopf noch zweimal gegen die Wand. Der Junge sackte zu Boden.
    Joe hatte ihn nie zuvor gesehen.
    Auf der Krankenstation desinfizierte ein Arzt seine Wunden, nähte den Stich in seinem Oberschenkel und legte ihm einen engen Verband an. Der Arzt, der nach irgendwelchen Chemikalien roch, riet ihm, das Bein und die Hüfte vorerst so wenig wie möglich zu belasten.
    »Und wie soll ich das machen?«, fragte Joe.
    Der Arzt fuhr fort, als hätte Joe überhaupt nichts gesagt. »Und halten Sie die Wunden sauber. Wechseln Sie den Verband zweimal täglich.«
    »Sie geben mir also noch Verbandszeug mit?«
    »Nein«, erwiderte der Arzt in einem Ton, als würde ihn die Frage persönlich beleidigen.
    »Aber…«
    »Ach was, Sie sind schon wieder so gut wie neu«, sagte der Arzt und verließ den Raum.
    Er wartete darauf, dass sie ihn holten. Er wollte wissen, welche Bestrafung auf ihn zukam. Er wollte wissen, ob der Bursche, der ihn angegriffen hatte, noch lebte. Doch niemand verlor auch nur ein Wort über die Sache. Es war, als hätte er sich alles nur eingebildet.
    Nachdem das Licht gelöscht worden war, fragte er Mr.   Hammond, ob er etwas über den Zwischenfall vor den Duschen gehört hatte.
    »Nein.«
    »Nein, Sie haben nichts gehört?«, hakte Joe nach. »Oder nein, es hat gar keine Schlägerei gegeben?«
    »Nein«, sagte Mr.   Hammond und ging.
    Ein paar Tage später wurde er tatsächlich von einem anderen Häftling angesprochen. Die rauhe Stimme des Mannes, der mit leichtem Akzent sprach (italienisch, schätzte Joe), war nicht sonderlich bemerkenswert, doch nach einer Woche fast ungebrochenen Schweigens klang sie so engelsgleich, dass Joe einen Kloß im Hals verspürte.
    Es war ein alter Mann mit einer dicken Brille, die zu groß für sein Gesicht war. Er trat zu Joe, als dieser hinkend seine Runden auf dem Hof drehte. Am Samstag hatte er ebenfalls in der Schlange vor den Duschen gestanden. Joe erinnerte sich an ihn, weil er so gebeugt, so gebrechlich ausgesehen hatte, dass er sich nicht einmal vorzustellen wagte, welchen Greueln der alte Mann hier im Lauf der Jahre ausgesetzt gewesen war.
    »Glaubst du, sie hören irgendwann auf damit?«
    Er war etwa so groß wie Joe und hatte eine Halbglatze. Seine verbliebenen Haare waren graumeliert, ebenso wie sein bleistiftdünner Schnäuzer. Er hatte lange Beine, einen gedrungenen Oberkörper und auffällig kleine Hände. Seine Bewegungen wirkten elegant und katzenhaft wie die eines Fassadenkletterers, doch sein Blick war so unschuldig und erwartungsvoll wie der eines Kindes am ersten Schultag.
    »Wohl kaum«, sagte Joe. »Die haben bestimmt noch einiges in petto.«
    »Was meinst du, wie lange du das durchhältst?«
    »Bis es nicht mehr geht«, gab Joe zurück. »Aber das dauert noch ein bisschen.«
    »Du bist sehr schnell.«
    »Schnell. Aber nicht sehr schnell.«
    »Finde ich schon.« Der alte Mann kramte ein Leinensäckchen hervor und förderte zwei Zigaretten zutage. Eine davon reichte er Joe. »Ich habe beide Prügeleien mitverfolgt. Du bist so schnell, dass die

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