In der Nacht (German Edition)
meisten hier nicht mal mitgekriegt haben, wie du deine Rippen abschirmst.«
Joe blieb stehen, während der Alte ein Streichholz an seinem Daumennagel anriss und ihm Feuer gab. »Ich schirme überhaupt nichts ab.«
Der alte Mann lächelte. »Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, vor alldem hier« – er deutete mit vager Geste auf die Mauern und den Stacheldraht –, »hatte ich mal einige Boxer unter Vertrag. Ein paar Wrestler auch. Viel Geld ist dabei nicht rumgekommen, aber ich habe eine Menge hübscher Mädels kennengelernt. Wo Boxer sind, gibt es immer jede Menge hübscher Mädels. Und hübsche Mädels sind immer mit anderen hübschen Mädels unterwegs.« Er zuckte mit den Schultern, während sie weitergingen. »Wie auch immer, ich erkenne sofort, wenn jemand seine Rippen schützt. Sind sie gebrochen?«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Joe.
»Ehrenwort«, sagte der alte Mann. »Wenn ich gegen dich antreten müsste, würde ich mich darauf beschränken, deine Knöchel zu packen und dich umzureißen.«
Joe lachte. »Nur die Knöchel?«
»Na ja«, sagte der Alte. »Vielleicht würde ich dir auch eins auf die Nase geben, wenn du deine Deckung vernachlässigst.«
Joe fasste den Alten ein wenig genauer ins Auge. Offenbar saß er hier schon so lange ein, dass er jede nur erdenkliche Demütigung erfahren und längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, und nun ließen sie ihn in Ruhe, weil er all den Wahnsinn überlebt hatte. Oder vielleicht einfach, weil er ein müder Greis war, bei dem es nichts zu holen gab. Harmlos.
»Apropos Deckung…« Joe nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Es war schlicht unglaublich, wie gut eine Kippe schmecken konnte, wenn man nicht wusste, wo man die nächste herbekommen sollte. »Vor ein paar Monaten habe ich mir sechs Rippen gebrochen und die anderen auch ziemlich lädiert.«
»Vor ein paar Monaten? Dann musst du ja nur noch zwei weitere durchhalten.«
»Wie? Im Ernst?«
Der alte Mann nickte. »Gebrochene Rippen sind wie gebrochene Herzen – beides heilt erst nach sechs Monaten.«
Tatsächlich?, dachte Joe.
»Tja, würden die Mahlzeiten bloß so lange vorhalten.« Der Alte rieb sich seinen kleinen Schmerbauch. »Wie heißt du überhaupt?«
»Joe.«
»Nicht Joseph?«
»So nennt mich nur mein Vater.«
Der Mann nickte und blies genüsslich eine Rauchwolke über die Lippen. »Das hier ist der Friedhof aller Hoffnungen. Aber zu der Erkenntnis bist du sicher auch schon gelangt.«
Joe nickte.
»Der Knast frisst Menschen bei lebendigem Leib. Und hinterher spuckt er sie nicht mal wieder aus.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Oh«, sagte der alte Mann. »Ich habe schon vor Jahren mit dem Zählen aufgehört.« Er ließ den Blick über den schmierig blauen Himmel schweifen und spuckte einen Tabakkrümel von seiner Zunge. »Keiner kennt dieses Loch besser als ich. Also frag mich einfach, wenn dir irgendwas unklar sein sollte.«
Joe mutmaßte, dass sich der alte Knabe offenbar maßlos überschätzte, aber ein wenig Höflichkeit konnte trotzdem nicht schaden. »Ich komme drauf zurück. Vielen Dank für das Angebot.«
Sie hatten das Ende des Hofs erreicht. Als sie kehrtmachten, um ihren Weg in die andere Richtung fortzusetzen, legte der Alte plötzlich seinen Arm um Joes Schultern.
Der gesamte Hof beobachtete sie.
Der alte Mann schnippte seine Zigarette in den Staub und streckte die Rechte aus. Joe schüttelte ihm die Hand.
»Ich bin Tommaso Pescatore, aber alle nennen mich Maso. Du stehst ab jetzt unter meinem persönlichen Schutz.«
Joe kannte den Namen. Maso Pescatore kontrollierte das North End und die meisten Spielhöllen und Puffs an der North Shore. Aus dem Knast heraus organisierte er das Geschäft mit dem karibischen Rum, der aus Florida an die Ostküste kam. Tim Hickey hatte im Lauf der Jahre des Öfteren mit ihm zusammengearbeitet und stets darauf hingewiesen, dass im Umgang mit diesem Mann höchste Vorsicht geboten war.
»Ich habe nicht um Ihren Schutz gebeten, Maso.«
»Tja, ob gut oder schlecht – was kann man sich schon aussuchen im Leben?« Maso nahm seinen Arm von Joes Schultern und legte die Hand an die Stirn, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen. In seinem eben noch so unschuldigen Blick spiegelte sich plötzlich nichts als Verschlagenheit. »Von jetzt an bin ich für dich Mr. Pescatore, Joseph. Und das hier gibst du deinem Vater bei seinem nächsten Besuch.« Mit diesen Worten drückte er ihm ein Stück Papier in die Hand.
Auf
Weitere Kostenlose Bücher