In der Nacht (German Edition)
in der Stadt. Und er hatte keine einzige Nacht hinter Gittern verbracht – wahrscheinlich, weil er sich ebenfalls Jack D’Jarvis’ Dienste gesichert hatte.
Thomas warf einen Blick zu dem Gefängnis zurück, das nun das Zuhause seines Sohnes war. Ja, es war tragisch, aber alles andere als überraschend gekommen. Immer wieder hatte Thomas ihn gewarnt, seine Missbilligung zum Ausdruck gebracht, und trotzdem hatte sein Sohn die Laufbahn eingeschlagen, deren Endstation Zuchthaus hieß. Wenn Thomas jetzt den Notruf benutzte, war er lebenslänglich Handlanger des Pescatore-Clans, Sklave eines Menschenschlags, der Krieg und Anarchie, Mord und Totschlag in dieses Land gebracht, die sogenannte omertà organiza ins Leben gerufen und den Handel mit illegalem Alkohol fast vollständig an sich gerissen hatte.
Und er sollte ihnen zu noch mehr Macht verhelfen?
Mit ihnen gemeinsame Sache machen?
Ihre Ringe küssen?
Er schloss die Klappe der Notrufsäule, steckte den Schlüssel wieder ein und stieg in seinen Wagen.
Zwei Tage lang überlegte er, was er tun sollte. Zwei Tage lang betete er zu einem Gott, den es, wie er fürchtete, gar nicht gab. Er betete um Beistand. Er betete für seinen Sohn, der hinter jenen Granitmauern einsaß.
Samstag war sein freier Tag. Thomas stand gerade auf einer Leiter, die an seinem Haus in der K Street lehnte, und erneuerte den schwarzen Anstrich der Fensterbänke, als ihn jemand nach dem Weg fragte. Es war ein schwülheißer Nachmittag, und über den Himmel trieben ein paar vereinzelte lila Wolken. Durch ein Fenster im zweiten Stock warf er einen Blick in das Zimmer, das einst Aidens gewesen war. Drei Jahre lang hatte es leergestanden, ehe seine Frau Ellen es sich als Nähzimmer eingerichtet hatte. Seit ihrem Tod vor zwei Jahren – sie war im Schlaf gestorben – standen dort nur noch eine pedalbetriebene Nähmaschine und ein Kleiderständer, an dem noch die Sachen hingen, die sie hatte flicken wollen. Thomas tauchte den Pinsel in den Farbtopf. Es würde immer Aidens Zimmer bleiben.
»Entschuldigung, ich fürchte, ich habe mich irgendwie verlaufen.«
Thomas sah aus zehn Metern Höhe zu dem Mann hinunter, der auf dem Gehsteig stand. Er trug einen leichten blauen Leinenanzug, ein weißes Hemd und eine rote Fliege, keinen Hut.
»Was suchen Sie denn?«, fragte Thomas.
»Die Badeanstalt in der L Street.«
Von hier oben konnte Thomas das Badehaus sehen, und nicht bloß das Dach, sondern das ganze Backsteingebäude. Er sah die kleine Bucht dahinter und jenseits der Bucht den Atlantik, der sich bis hinüber zu seinem Geburtsland erstreckte.
»Die ist gleich da vorn.« Thomas deutete zum Ende der Straße, nickte dem Mann zu und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
»Ah, ja?«, sagte der Mann. »Da drüben, meinten Sie?«
Thomas wandte sich abermals um und nickte.
»Tja, manchmal kriege ich’s echt nicht hin«, sagte der Mann. »Ist Ihnen das auch schon mal passiert? Sie wissen genau, wo’s langgeht, aber irgendwie stehen Sie sich selbst im Weg?«
Der Mann war blond und farblos, auf unbestimmte Weise gut aussehend, wenn auch völlig durchschnittlich. Weder groß noch klein, dick oder dünn.
»Sie werden ihn nicht töten«, sagte er in fast liebenswürdigem Tonfall.
»Pardon?«, sagte Thomas und ließ den Pinsel in den Farbtopf fallen.
Der Mann legte die Hand an die Leiter.
Zehn Meter. Die richtige Höhe, um sich den Hals zu brechen.
Der Mann sah blinzelnd zu Thomas auf und blickte dann die Straße hinunter. »Aber er wird sich wünschen, tot zu sein. Dafür werden sie schon sorgen – jeden verdammten Tag seines Lebens.«
»Ihnen ist sicher bekannt, welchen Rang ich innerhalb des Boston Police Department bekleide«, sagte Thomas.
»Er wird mit dem Gedanken spielen, Selbstmord zu begehen«, sagte der Mann. »Aber das werden sie zu verhindern wissen – indem sie ihm klarmachen, dass Sie ein toter Mann sind, sobald er auch nur den Versuch unternimmt. Und dazu werden sie ihm rund um die Uhr die Hölle auf Erden bereiten.«
Ein schwarzer Model T löste sich vom Bordstein und fuhr im Schritttempo los. Der Mann verließ den Gehsteig, stieg ein, und dann waren sie auch schon um die nächste Straßenecke verschwunden.
Thomas kletterte die Leiter hinab. Überrascht stellte er fest, dass seine Hände zitterten, und selbst nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, wollte das Zittern nicht aufhören. Er wurde alt. Besser, wenn er sich nicht mehr auf hohen Leitern herumtrieb.
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