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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Rippen stand – jeder einzelne Schritt schmerzte, jeder verdammte Atemzug –, würde spätestens morgen früh nur noch ein blutiger Haufen von ihm übrig sein.
    Joe hatte Oliver und Eugene an der Westmauer erspäht, doch im selben Augenblick sah er, wie sie zu einer Gruppe anderer Männer traten. Sie wollten nichts mit ihm zu tun haben, bevor sie nicht wussten, wie das Ganze ausging. Was bedeutete, dass er sich nun auf eine Schar von Kerlen zubewegte, die er nicht kannte. Wenn er plötzlich stehen blieb, würde er sich zum Affen machen. Und sich zum Affen zu machen bedeutete ebenfalls, Schwäche zu zeigen.
    Er hatte die Gruppe fast erreicht, als sie sich allesamt abwandten und davonmarschierten.
    Und so ging es den ganzen Tag – keiner sprach auch nur ein Wort mit ihm. Es war, als hätte er eine heimtückische Krankheit, mit der sich niemand anstecken wollte.
    Als er in seine Zelle zurückkam, war sie leer. Seine zerlumpte Matratze lag auf dem Boden, die anderen waren verschwunden. Selbst die Etagenbetten waren nicht mehr da – nur die Matratze, die kratzige Decke und der Scheißeimer. Joe wandte sich um zu Mr.   Hammond, der gerade im Begriff war, die Tür zu schließen.
    »Wo sind die anderen hin?«
    »Andere Zelle«, sagte Mr.   Hammond und ging.
    In der Nacht lag Joe in dem aufgeheizten Kabuff und fand wiederum so gut wie keinen Schlaf. Es lag nicht bloß an seinen schmerzenden Rippen und auch nicht einfach nur an seiner Angst – ein Übriges tat der Gestank der umliegenden Fabriken, der dem Mief innerhalb der Zuchthausmauern in nichts nachstand. Zehn Fuß über ihm befand sich ein kleines Zellenfenster. Vielleicht war damit ursprünglich die Absicht verbunden gewesen, dem Insassen einen barmherzigen Hauch der Außenwelt zu vergönnen. Nun aber fungierte es lediglich als Durchlass für die Fabrikschwaden, die von draußen zu ihm hineinwehten. Während Nagetiere an den Wänden entlanghuschten, das Schnarchen, Grunzen, Ächzen anderer Männer an seine Ohren drang, fragte sich Joe ein ums andere Mal, wie er hier fünf Tage, geschweige denn fünf Jahre überleben sollte. Er hatte Emma ebenso verloren wie seine Freiheit, und allmählich merkte er, wie sein Lebensmut zu schwinden begann. Sie hatten ihm alles genommen.
    Am Tag darauf ging es nahtlos so weiter. Und am nächsten auch. Alle, denen er sich näherte, machten sich auf der Stelle davon. Jeder, dem er in die Augen sah, wandte sofort den Blick ab. Trotzdem spürte er genau, wie sie ihn beobachteten, sobald er sich wegdrehte. Sonst passierte nichts – sie beobachteten ihn, ließen ihn keine Sekunde aus den Augen.
    Und warteten.
    »Aber worauf?«, fragte er, als das Licht gelöscht worden war und Mr.   Hammond den Schlüssel in der Zellentür drehte. »Worauf warten sie?«
    Mit ausdruckslosem Blick musterte ihn Mr.   Hammond durch die Gitterstäbe.
    »Es ist doch so«, fuhr Joe fort. »Sollte ich jemandem auf den Schlips getreten sein, bring ich das gern in Ordnung. Also, wie gesagt, ich bin bereit…«
    »Du bist im Schlund der Bestie«, sagte Mr.   Hammond. Er ließ den Blick über die Gitterroste der Gänge über sich schweifen. »Sie entscheidet, ob sie dich ein bisschen auf ihrer Zunge tanzen lässt. Oder ob sie vielleicht mehr Spaß daran hat, ihre Fänge in dein Fleisch zu graben. Womöglich lässt sie dich sogar über ihre Zähne klettern und herausspringen. Aber sie entscheidet. Sie allein, nicht du.« Mr.   Hammond ließ seinen großen Ring mit den Schlüsseln einmal durch die Luft kreisen, ehe er ihn wieder an seinem Gürtel befestigte. »Warte einfach ab.«
    »Wie lange denn noch?«, fragte Joe.
    »Das liegt ganz bei ihr.« Dann entfernten sich Mr.   Hammonds Schritte.
    Der Junge, der ihn als Nächster attackierte, war tatsächlich nicht mehr als das: ein Junge. Er bebte vor Angst und Nervosität, doch das machte ihn nicht weniger gefährlich. Es war Samstag, und Joe wollte gerade unter die Dusche, als er sich aus der Schlange der Wartenden löste und auf Joe zuhielt.
    Joe wusste sofort Bescheid, doch er war dem Lauf der Dinge hilflos ausgeliefert. Der Junge trug seine gestreifte Gefängniskluft und hatte wie alle anderen Handtuch und Seife dabei, doch in der rechten Hand hielt er außerdem einen Kartoffelschäler, dessen Kanten mit einem Schleifstein geschärft worden waren.
    Joe spannte jede Faser seines Körpers an, bereit, den Angriff abzuwehren, doch der Junge tat, als wolle er bloß an ihm vorbeigehen, ehe er einen Sekundenbruchteil

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