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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf das Waschbecken und starrte in das Wasser, das gurgelnd im Abfluss verschwand. Leise sagte er: »Wir wissen es nicht.«

17
    Sullivan Obie brauste mit seiner Harley über den Mars.
    Um Mitternacht, wenn der Vollmond vom Himmel strahlte und die zerklüftete Wüstenlandschaft sich vor ihm ausdehnte, konnte er sich einbilden, es wäre Marswind, der sein Haar peitschte, und roter Marsstaub, der unter den Rädern knirschte. Es war ein alter Tagtraum aus seiner Kindheit, aus den Tagen, als die frühreifen Obie-Brüder selbst gebastelte Raketen abgefeuert und Mondlandefähren aus Pappe gebaut hatten und in Raumanzügen aus Stanniolpapier herumgelaufen waren. Aus den Tagen, als er und Gordie irgendwie ganz sicher gewusst hatten, dass ihre Zukunft in den Weiten des Weltraums lag.
    Und das ist aus diesen hochfliegenden Träumen geworden,
dachte er.
Im Tequilarausch durch die Wüste brettern.
Er würde es niemals bis zum Mars schaffen, oder auch nur bis zum Mond. Wahrscheinlich würde er nicht einmal von der verdammten Startrampe wegkommen, sondern auf der Stelle zerfetzt werden. Ein schneller, spektakulärer Tod. Na ja, immer noch besser, als mit fünfundsiebzig an Krebs zu sterben.
    Er brachte die Maschine mit einem Schlenker zum Stehen und starrte über die mondbeschienenen Sanddünen hinweg zur
Apogee II
hinüber, die sich wie ein silberner Pfeil von der Rampe erhob und ihre Nase gen Himmel reckte. Sie hatten sie gestern dorthin transportiert. Es war eine langsame, feierliche Prozession gewesen, und die kleine Schar von Apogee-Mitarbeitern hatte gehupt und mit den Händen auf die Autodächer getrommelt, während sie dem Tieflader durch die Wüste gefolgt waren. Als sie das gute Stück schließlich aufgerichtet hatten und alle Augen im grellen Sonnenschein blinzelnd zu ihr aufgeblickt hatten, war es plötzlich ganz still geworden. Alle wussten: Das hier war die allerletzte Runde, und die Einsätze waren gemacht. Wenn die
Apogee II
in drei Wochen startete, würden all ihre Hoffnungen und Träume mit an Bord sein.
    Zusammen mit meinem eigenen jämmerlichen Kadaver,
dachte Sullivan.
    Es durchfuhr ihn eiskalt, als ihm klar wurde, dass er vielleicht gerade seinen Sarg betrachtete.
    Er jagte die Maschine hoch und donnerte zurück zur Straße, schoss über Dünen und setzte im Sprung über Senken. Er fuhr blindlings drauflos, sein Leichtsinn genährt von Tequila und der plötzlichen, unerschütterlichen Gewissheit, dass er bereits ein toter Mann war. Dass er in drei Wochen mit dieser Rakete ins Nirwana abheben würde. In der Zwischenzeit konnte ihm nichts und niemand etwas anhaben, er war unverwundbar.
    Die Aussicht auf den sicheren Tod hatte ihn unbesiegbar gemacht.
    Immer schneller und schneller flog er durch die öde Mondlandschaft seiner Kindheitsfantasien.
Und jetzt sitze ich im Mondauto und rase durch das Meer der Ruhe. Jage einen Mondhügel hoch. Hebe ab und setze zu einer weichen Landung an …
    Er spürte, wie der Boden unter ihm jäh abfiel. Er flog durch die Nacht, die grollende Harley zwischen den Knien, das Mondlicht in seinen Augen. Immer noch flog er. Wie weit? Wie hoch?
    Er schlug mit solcher Wucht auf dem Boden auf, dass er die Kontrolle verlor und zur Seite schleuderte. Er fiel, und die Harley landete auf ihm. Einen Augenblick lang lag er benommen da, eingeklemmt zwischen seiner Maschine und einem flachen Felsen.
Na, das ist ja vielleicht eine bescheuerte Lage,
dachte er.
    Dann setzten die Schmerzen ein. Tief und bohrend, als würden seine Hüften zu Splittern zermahlen.
    Er schrie auf und ließ sich zurückfallen, das Gesicht zum Himmel gerichtet. Der Mond blickte spöttisch auf ihn herab.
    »Sein Becken ist an drei Stellen gebrochen«, sagte Bridget. »Die Ärzte haben es gestern genagelt. Sie haben mir gesagt, er muss mindestens sechs Wochen im Bett bleiben.«
    Casper Mulholland konnte fast hören, wie seine Träume mit einem lauten Knall wie ein Luftballon zerplatzten. »Sechs …
Wochen?
«
    »Anschließend muss er für drei bis vier Monate in die Rehaklinik.«
    »Vier
Monate?
«
    »Mein Gott, Casper, sag doch mal was Originelles.«
    »Wir sind ruiniert.« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn, als wollte er sich dafür bestrafen, dass er zu träumen gewagt hatte, sie könnten je Erfolg haben. Da war er wieder, der alte Apogee-Fluch, und stellte ihnen kurz vor der Ziellinie ein Bein. Er ließ ihre Raketen in tausend Stücke fliegen. Er hatte ihr erstes Büro niedergebrannt. Und jetzt zog er ihren

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