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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Luther in den nächsten sechs Stunden erreichen konnten oder nicht, war von entscheidender Bedeutung für das Schicksal der Raumstation.
    Obwohl diese Verantwortung schwer auf seinen müden Schultern lastete, konnte Nikolai es kaum erwarten, die Luke zu öffnen und aus der Schleuse hinauszuschweben. Ein Weltraumspaziergang war wie eine zweite Geburt; wie ein Fötus tauchte man aus dieser kleinen, engen Öffnung hervor und schwamm, nur von der Nabelschnur gehalten, in die endlose Weite des Alls. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte er sich regelrecht darauf gefreut, hätte voller Spannung dem Erlebnis absoluter Freiheit entgegengefiebert, dem Gefühl, in einem Universum ohne Grenzen dahinzutreiben, und dem unglaublichen Anblick der blauen Erdkugel, die sich tief unter ihnen langsam drehte.
    Doch die Bilder, die ihm in den Sinn kamen, während er mit geschlossenen Augen darauf wartete, dass die dreißig Minuten verstrichen, waren keine Bilder von Raumspaziergängen. Er sah die Gesichter der Toten. Er sah die
Discovery
zur Erde stürzen. Er sah die Crew, in ihren Sitzen festgeschnallt, während ihre Körper wie Puppen hin und her geschleudert wurden, bis ihre Wirbelsäulen brachen und ihre Herzen zersprangen. Obwohl die Bodenkontrolle ihnen nichts über die Einzelheiten der Katastrophe gesagt hatte, erfüllten die albtraumhaften Visionen seinen Sinn, ließen sein Herz schneller schlagen und seinen Mund trocken werden.
    »Eure dreißig Minuten sind um, Jungs«, erklang Emmas Stimme über den Bordlautsprecher. »Zeit für die Dekompression.«
    Nikolais Hände waren klamm und verschwitzt, als er die Augen wieder öffnete und sah, wie Luther die Dekompressionspumpe in Gang setzte. Die Luft wurde aus der Schleuse herausgepumpt, und der Druck begann zu sinken. Wenn ihre Raumanzüge undichte Stellen hatten, würden sie es jetzt bemerken.
    »Alles okay?«, fragte Luther, während er die Anschlüsse ihrer »Nabelschnüre« überprüfte.
    »Ich bin bereit.«
    Luther öffnete das Außenventil der Druckschleuse. Dann löste er die Sperre des Handgriffs und klappte die Luke auf.
    Zischend entwich der letzte Rest Luft.
    Sie hielten, die Hände am Rahmen der Luke, noch einen Augenblick inne und starrten in ehrfürchtigem Schweigen nach draußen. Dann schwamm Nikolai hinaus in die Schwärze des Weltraums.
    »Jetzt kommen sie raus«, sagte Emma, die auf dem Videobildschirm verfolgte, wie die zwei Männer aus der Luke der Mannschaftsschleuse auftauchten und an ihren Nabelschnüren hängend hinausschwebten. Sie entnahmen Werkzeug aus einem außerhalb der Druckschleuse angebrachten Behälter. Dann hangelten sie sich mit Hilfe der in kurzen Abständen angebrachten Handgriffe zur Hauptträgerstruktur vor. Als sie an der direkt unterhalb der Struktur angebrachten Kamera vorbeikamen, winkte Luther.
    »Guckt ihr euch die Sendung auch an?«, kam seine Stimme über die UHF-Anlage.
    »Auf der Außenkamera können wir euch einwandfrei sehen«, sagte Griggs. »Aber eure EMU-Kameras senden nicht.«
    »Auch die von Nikolai nicht?«
    »Keine von beiden. Wir versuchen, das Problem zu identifizieren.«
    »Okay, also, wir klettern jetzt weiter, um uns den Schaden anzusehen.«
    Die beiden Männer verschwanden aus dem Aufnahmebereich der ersten Kamera. Für einen Augenblick war nichts von ihnen zu sehen. Dann sagte Griggs: »Da sind sie!« Er zeigte auf einen anderen Bildschirm, auf dem die Männer in ihren Raumanzügen zu sehen waren, wie sie sich entlang der Oberseite des Gerüsts langsam auf die zweite Kamera zuarbeiteten. Dann verschwanden sie erneut von der Bildfläche. Sie waren nun in dem Bereich, der von der beschädigten Kamera abgedeckt werden sollte.
    »Seid ihr bald da, Jungs?«, fragte Emma.
    »Gleich … gleich sind wir da«, antwortete Luther. Er klang kurzatmig.
Macht langsam,
dachte sie.
Teilt eure Kräfte ein.
    Lange Zeit, scheinbar endlos lange, war nichts von der Außenbordcrew zu hören. Emma spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und ihre Anspannung wuchs. Die Station war bereits angeschlagen, ihre Energieversorgung schwer beeinträchtigt. Bei diesen Reparaturen durfte nichts schief gehen.
Wenn doch bloß Jack hier wäre,
dachte sie. Jack war ein talentierter Bastler, der jeden Bootsmotor nachbauen oder aus ein paar Teilen vom Schrottplatz ein Kurzwellenradio zusammenschustern konnte. Im Orbit ist das wertvollste Werkzeug ein geschicktes Paar Hände.
    »Luther?«, fragte Griggs.
    Es kam keine Antwort.
    »Nikolai?

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