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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sich die Wangen. Er ließ sich den Bart wieder wachsen, die roten Stoppeln leuchteten im Sonnenlicht. »Ja, gut, ich habe über meine nachgedacht«, sagte er. »Ich fürchte, sie wird lauten: ›Er kam, er sah, er versaute‹.«
    Baedecker schüttelte den Kopf. »Pessimistische Nachrufe sind frühestens mit fünfundzwanzig erlaubt«, sagte er. Er las weiter, aber dann legte er die Zeitung weg.
    »Eigentlich«, sagte er, »ist das gar nicht so weit entfernt von einem Zitat, das ich seit Jahren mit mir herumschleppe, weil ich fürchte, es wird einmal meine Inschrift werden.«
    »Und das wäre?« fragte Scott. Draußen ließ der Regen nach; sie konnten die Umrisse von Palmen vor dem hellen Himmel sehen.
    »Hast du je John Updikes ›The Music School‹ gelesen?«
    »Nein.«
    Baedecker machte eine Pause. »Ich glaube, das ist meine Lieblingskurzgeschichte«, sagte er. »Wie auch immer, darin kommt eine Stelle vor, da sagt der Erzähler: ›Ich bin weder musikalisch noch religiös. Jeden Augenblick meines Lebens muß ich die Finger nach unten drücken und kann mich nicht darauf verlassen, daß ich einen Akkord höre.‹«
    Scott sagte eine Zeitiang nichts. Über das Lautsprechersystem des Flughafens wurden unablässig Namen aufgerufen und bestätigt, daß es sich dabei nicht um Werbung religiöser Sekten handle. »Und wie endet sie?« fragte Scott.
    »Die Story?« sagte Baedecker. »Nun, der Erzähler erinnert sich daran, wie er als kleiner Junge zur Heiligen Kommunion ging und beigebracht bekam, die Hostie nicht mit den Zähnen zu berühren ...«
    »Nn-nnn«, sagte Scott. »Das haben sie mir in Saint Malachy's nicht beigebracht.«
    »Nein«, stimmte Baedecker zu, »heute backen sie die Waffeln so dick, daß man sie kauen muß. Das beschließt der Erzähler am Ende der Geschichte auch für sein Leben. Ich glaube, der Schluß lautet: ›Die Welt ist die Hostie. Und man muß sie kauen.‹«
    Scott sah seinen Vater eine ganze Zeitlang an. Dann sagte er: »Hast du schon einmal eines der vedischen Heiligen Bücher gelesen, Dad?«
    »Nein«, sagte Baedecker.
    »Aber ich«, sagte Scott. »Letztes Jahr in Indien habe ich ziemlich oft darin gelesen. Sie hatten nicht viel mit dem zu tun, was der Meister lehrte, aber irgendwie glaube ich, daß ich mich an die Bücher länger erinnern werde. Eines meiner Lieblingszitate stammt aus den Tattireeya-Upanishaden. Es lautet ›Ich bin diese Welt, und ich esse diese Welt. Wer das weiß, der weiß.«»
    In diesem Augenblick wurde Baedeckers Flug aufgerufen. Er stand auf, hielt die Fliegertasche mit der linken Hand und streckte die rechte seinem Sohn hin. »Gib auf dich acht, Scott. Wir sehen uns in den Weihnachtsferien, wenn nicht vorher.«
    »Gib du auch auf dich acht«, sagte Scott, schenkte der dargebotenen Hand keine Beachtung, schlang die Arme um Baedecker und drückte ihn.
    Baedecker preßte die Hand auf den kräftigen Rücken seines Sohnes und machte die Augen zu.
     
    Baedecker erwischte einen Flug um 7 Uhr 45 vom O'Hare. Dieser ging nach Seattle, allerdings mit einem Zwischenhalt in Rapid City, South Dakota, und näher würde Baedecker nicht an die Ranch von Maggies Großeltern bei Sturgis herankommen. So müde Baedecker war, fiel ihm doch auf, daß es sich bei dem Flugzeug um eine der neuen Boeing 767 handelte. Mit so einer war er bisher noch nie geflogen.
    Sie servierten das Frühstück irgendwo über dem südlichen Minnesota. Baedecker betrachtete das Tablett mit gewärmtem Rührei und Würstchen und kam zum Ergebnis, daß es, Appetit hin oder her, nach fast drei Tagen Zeit wurde, etwas zu essen. Er konnte es nicht. Er trank Kaffee und betrachtete Flecken brauner Landschaft zwischen den Wolken, als eine Stewardeß zu ihm kam und sagte: »Mr. Baedecker?«
    »Ja?« sagte Baedecker aufgeschreckt. Woher kannte sie seinen Namen? War mit Scott etwas passiert?
    »Captain Hollister läßt fragen, ob Sie gerne auf das Flugdeck kämen.«
    »Aber sicher«, sagte Baedecker und folgte ihr nach vom durch die erste Klasse, während Erleichterung seinen Herzschlag wieder bremste. Er kramte in seiner Erinnerung und versuchte sich zu erinnern, ob er einmal einen Flugzeugpiloten namens Hollister kennengelernt hatte. Er konnte sich an niemanden dieses Namens erinnern, wollte sich aber nicht auf sein Gedächtnis verlassen.
    »Da sind wir, Sir«, sagte die Stewardeß und hielt ihm die Tür auf.
    »Danke«, sagte Baedecker und trat ein.
    Der Pilot sah auf und grinste. Er war ein Mann Anfang Vierzig mit

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