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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Hotelzimmers in Khajuraho hinauf wanderte. Baedecker fragte sich leichthin, ob Joan das Haus verkauft hatte oder noch besaß und vermietete.
    Nach einer Weile stand er vom Bett auf und sah zum Fenster hinaus. Damit verstellte er die dünne Linie des Mondlichts und ließ die Dunkelheit herein.
     
    Basti, Chawl, wie immer die Einwohner von Kalkutta auch dazu sagen mochten, es war das Elendsviertel schlechthin. Das Labyrinth der Wellblechhütten und Sackleinwandzelte erstreckte sich meilenweit an den Eisenbahnschienen entlang und wurde lediglich von einigen kurvigen Pfaden durchzogen, die als Straßen und Abwasserkanäle zugleich dienten. Das Gedränge der Menschenmassen war fast unvorstellbar. Überall liefen Kinder herum, verrichteten ihre Geschäfte vor Türen, jagten einander zwischen den Hütten und folgten Baedecker mit dem leichtfüßigen Hüpfen der Scheuen und Barfüßigen. Frauen sahen weg, wenn Baedecker vorüberging, oder zogen den Stoff ihrer Saris hoch und verhüllten die Gesichter. Männer sahen ihn mit unverhohlener Neugier an, die an Feindseligkeit grenzte. Manche schenkten ihm gar keine Beachtung. Mütter hockten hinter ihren Kindern und waren damit beschäftigt, Läuse aus verfilzten Haaren zu klauben. Kleine Mädchen knieten neben alten Frauen und kneteten Kuhdung mit den Händen, formten ihn zu handlichen Briketts. Ein alter Mann hustete Schleim in die Hand, während er sich auf einem freien Platz zum Kacken hingehockt hatte.
    »Baba! Baba!« Kinder liefen neben Baedecker her. Handflächen wurden nach oben gehalten, Hände zerrten an ihm. Er hatte schon lange keine Münzen mehr in den Taschen.
    »Baba! Baba!«
    Er hatte mit Maggie vereinbart, daß er sich um zwei Uhr in der Universität von Kalkutta mit ihr treffen würde, sich aber verirrt, da er zu früh aus dem überfüllten Bus ausgestiegen war. Es mußte schon auf fünf Uhr zugehen. Die Wege und gestampften Straßen führten immer wieder im Kreis zurück und hielten ihn zwischen den Schienen und dem Fluß Hooghly gefangen. Er hatte die Howrah Bridge wiederholt gesehen, schien aber nie näher zu ihr hinzugelangen. Der Gestank des Flusses wurde nur noch von dem der Elendsviertel und des Schlamms übertroffen, durch den er watete.
    »Baba!« Die Menge um ihn herum wurde größer, und nicht alle Bettler waren Kinder. Mehrere große Männer drängten sich dicht hinter ihn, redeten hastig auf ihn ein und stießen die Fäuste zu Schlägen vorwärts, die jedesmal beinahe trafen.
    Meine eigene verdammte Schuld , dachte Baedecker. Der häßliche Amerikaner schlägt wieder zu.
    Die Hütten hatten keine Türen. Hühner liefen in die engen, dunklen Unterkünfte hinein und heraus. In einer flachen Abwasserpfütze wuschen eine Gruppe Jungs und Männer die schwarzen Flanken eines schlafenden Ochsen. Irgendwo in der dichten Aneinanderreihung baufälliger Hütten spielte lautstark ein batteriebetriebenes Kofferradio. Die Musik schwoll zu einem Crescendo gezupfter Saiten an, das Baedeckers zunehmende Angst widerspiegelte. Dreißig oder vierzig Menschen folgten ihm jetzt, ausgemergelte, wütende Männer hatten die Kinder fast völlig verdrängt.
    Ein Mann mit einem roten Tuch um den Kopf kreischte laut etwas in einer Sprache, die Baedecker für Hindi oder Bengali hielt. Als Baedecker den Kopf schüttelte, daß er nicht verstand, versperrte ihm der Mann den Weg, fuchtelte mit den Armen in der Luft und brüllte noch lauter. Einige Ausdrücke wurden von anderen Männern in der Menge wiederholt.
    Schon viel früher hatte Baedecker einen kleinen, aber schweren Stein aufgehoben. Nun steckte er die Hand beiläufig in die Tasche seines Safarihemds und nahm diesen Stein. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, Ruhe senkte sich über ihn.
    Plötzlich ertönte ein Schrei von einer Seite, die Kinder stoben davon, und die Menge überließ Baedecker sich selbst und lief eine Nebenstraße hinab. Selbst der Mann mit dem roten Tuch um den Kopf brüllte eine Silbe zum Abschied und entfernte sich rasch. Baedecker wartete eine Minute, dann schlenderte er hinter ihnen her, einen schlammigen Pfad zum Flußufer hinab.
    Eine Menschenmenge hatte sich um etwas versammelt, das am Uferschlamm angespült worden war. Zuerst hielt Baedecker es für einen ausgebleichten Baumstumpf, aber dann gewahrte er die schreckliche Symmetrie und erkannte es als menschlichen Leichnam. Dieser war weiß
    weißer als ein Albino, weißer als ein Fischbauch und von Gasen auf doppelte Größe aufgebläht. Schwarze

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