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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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stählernen Symmetrie der gigantischen Antenne zu.
    »Wir auch«, sagte er.
     
    DAD, WIR SIND BIS SAMST. 27. JUNI IN KLAUSUR. BALD WIEDER IN POONA. WENN DU DA BIST SEHEN WIR UNS. SCOTT.
    Baedecker las das Telegramm noch einmal, knüllte es zusammen und schnippte es in den Abfalleimer in der Zimmerecke. Er ging zu dem breiten Fenster und sah auf die gespiegelten Lichter vom Queen's Necklace im unruhigen Wasser der Bucht hinunter. Nach einer Weile drehte er sich um, ging zur Rezeption hinunter und setzte ein Telegramm nach St. Louis auf, in dem er seine Firma darüber informierte, daß er nun doch beschlossen hatte, seinen Urlaub zu nehmen.
     
    »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte Maggie Brown. Sie verließen das Touristenboot, und Baedecker wich etwas vor dem Ansturm von Bettlern und Obdachlosen zurück. Er fragte sich wieder, ob er einen Fehler gemacht hatte, als er den Werbespot für die Kreditkarte ablehnte. Das Geld hätte er gut gebrauchen können.
    »Haben Sie geahnt, daß Scott in Klausur bleiben würde?« fragte Baedecker.
    »Nein. Es überrascht mich nicht, aber das ist es nicht. Ich hatte nur so eine Ahnung, daß ich Sie Wiedersehen würde.«
    Sie standen am Ufer des Ganges und bewunderten einen neuen Sonnenaufgang. Eine Menschenmenge drängte sich bereits auf der gewaltigen Treppe, die zum Fluß hinunterführte. Frauen, deren nasse Baumwollkleidung an den schlanken Gestalten klebte, kamen aus dem kaffeefarbenen Wasser gestiegen. Irdene braune Krüge spiegelten die Farbe der Haut. Hakenkreuze schmückten einen Tempel mit Marmorfassade. Baedecker konnte das Klatsch-klatsch-klatsch der Frauen der Wäscherkaste hören, die stromaufwärts Wäsche gegen die flachen Steine schlugen. Qualm von Weihrauch und Scheiterhaufen schwängerte die Morgenluft.
    »Auf den Schildern steht Benares«, sagte Baedecker, als sie sich der kleinen Gruppe anschlossen. »Die Fahrkarte ging nach Varanasi. Wo sind wir denn nun?«
    »Varanasi lautete der ursprüngliche Name. Alle nennen es Benares. Aber das wollten sie abschaffen, weil die Briten es so nannten. Sie wissen schon, ein Sklavenname. Malcolm X. Muhammad Ali.« Maggie verstummte und fiel in einen leichten Laufschritt, als der Führer sie ermahnte, in den schmalen Gassen den Anschluß nicht zu verlieren. An einer Stelle wurde die Straße so schmal, daß Baedecker die Hände ausstrecken und die gegenüberliegenden Hauswände mit den Fingerspitzen berühren konnte. Die Leute drängten, brüllten, schubsten, spuckten und machten Platz für die allgegenwärtigen Rinder, die frei herumliefen. Ein ungewöhnlich hartnäkkiger Bettler folgte ihnen mehrere Blocks lang und blies dabei ohrenbetäubend in seine handgeschnitzte Flöte. Schließlich blinzelte Baedecker Maggie zu, gab dem Jungen zehn Rupien und steckte die Flöte in die Hüfttasche.
    Sie betraten ein leerstehendes Gebäude. Im Innern hielten gelangweilte Männer Kerzen und wiesen den Weg eine ausgetretene Treppe hinauf. Als Baedecker vorüberging, streckten sie die Hände aus. Im zweiten Stock konnte man von einem kleinen Balkon über die Tempelmauer sehen. Ein goldverkleidetes Minarett war gerade noch zu erkennen.
    »Dies ist die heiligste Stätte der Welt«, sagte der Führer. Seine Haut hatte Farbe und Beschaffenheit eines gut geölten Baseballhandschuhs. »Heiliger als Mekka. Heiliger als Jerusalem. Heiliger als Bethlehem oder Samath. Es ist der allerheiligste Tempel, den alle Hindus nach einem Bad im Ganges besuchen wollen, bevor sie sterben.«
    Allgemeines Nicken und Murmeln folgte. Stechmük-kenschwärme tanzten vor verschwitzten Gesichtern. Auf dem Weg nach unten versperrten die Männer mit den Kerzen ihnen den Weg und waren viel beharrlicher mit ihren ausgestreckten Handflächen und schneidenden Stimmen.
    Als sie später gemeinsam mit einer Autorikscha zum Hotel zurückfuhren, drehte sich Maggie mit ernster Miene zu ihm um. »Glauben Sie daran? An Orte der Macht?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Keine heiligen Plätze, sondern Orte, die etwas ganz Besonderes für einen sind. Ein Ort, der seine eigene Macht besitzt.«
    »Nicht hier«, sagte Baedecker und deutete auf das traurige Schauspiel von Armut und Verfall, das sie passierten.
    »Nein, nicht hier«, stimmte Maggie Brown zu. »Aber ich habe einige Orte gefunden.«
    »Erzählen Sie mir von ihnen«, sagte Baedecker. Wegen des Lärms von Verkehr und Fahrradklingeln mußte er laut sprechen. Maggie sah nach unten und strich sich das Haar hinter ihr Ohr zurück,

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