Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Löcher schienen aus der aufgedunsenen Masse zu starren, die einmal ein Gesicht gewesen war. Mehrere Kinder, die Baedecker gefolgt waren, hockten jetzt neben diesem Ding und strichen schrill kichernd mit den Händen darüber. Die Beschaffenheit erinnerte Baedecker an weißen Pilz, an riesige Pilze, die in der Sonne verfaulten. Fleischfetzen fielen nach innen oder lösten sich während die Jungs stocherten und kicherten.
    Schließlich gingen einige der Männer näher und bohrten spitze Stöcke in den Leichnam. Sie wichen zurück, als Gas mit vernehmlichem Zischen entwich. Die Menge lachte. Mütter, die Kleinkinder an den Hüften trugen, drängten nach vorne.
    Baedecker zog sich zurück, schlich hastig eine Gasse entlang, bog, ohne nachzudenken, nach rechts ab und stand plötzlich auf einer gepflasterten Straße. Eine Straßenbahn, die unter der Last der festgeklammerten Passagiere schwankte, kam angefahren. Zwei Rikschakulis, die übergewichtige indische Geschäftsleute zum Essen nach Hause fuhren, sausten vorbei. Baedecker blieb einen Moment im Verkehrsstrom stehen, dann winkte er einem vorbeifahrenden Taxi.
     
    »Wie geht es dir, Richard?«
    »Großartig, Liebling. Ich habe in den nächsten Tagen nicht viel zu tun. Tom Gavin hat den größten Teil der Arbeit erledigt und sich echt gut um uns gekümmert. Dave und ich schicken ihn in ein paar Stunden raus, damit er die Filmdosen zurückholt. Wie ist es zu Hause?«
    »Einfach toll. Wir haben gestern den Start vom Mond in der Flugkontrolle mitverfolgt. Du hast uns nicht gesagt, daß es so schnell in die Höhe geht.«
    »Ja. Eine tolle Fahrt.«
    »... möchte ... ein paar ...«
    »Entschuldigung. Bitte wiederholen. Das habe ich nicht mitbekommen.«
    »Ich sagte, Scott möchte gerne ein paar Worte sagen.«
    »Okay ... prima! Stell ihn durch.«
    »Gut. Bis bald, Richard. Wir freuen uns schon darauf, dich am Dienstag zu sehen. Tschüs!«
    »Hi, Dad!«
    »Hi, Scott!«
    »Du hast im Fernsehen echt toll ausgesehen. Hast du wirklich einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt, wie sie gesagt haben?«
    »Ähh ... für Bodengeschwindigkeit ... für die Fahrt auf dem Mond, ja, das haben wir wohl, Scott. Aber Dave ist gefahren. Ich denke, der Rekord geht auf sein Konto.«
    »Oh.«
    »Nun, Tiger, wir müssen wieder an die Arbeit. War echt schön, mit dir zu reden.«
    »He, Dad.«
    »Ah ... roger, Scott...«
    »Ich kann euch alle drei auf dem großen Bildschirm hier sehen. Wer steuert eigentlich das Kommandomodul?«
    »Äh ... das ist eine gute Frage, oder nicht, Tom? Ich schätze, Scott ... ich schätze in den nächsten paar Tagen
    ... äh ... übernimmt Isaac Newton die Steuerung.« Liveübertragungen der Familien, die sich mit den
    Astronauten unterhielten, entsprachen der Vorstellung der NASA von vorzüglicher Werbung für die Abendnachrichten. Beim nächsten Flug wiederholten sie das allerdings nicht mehr.
    »Das illustre Grabmal Seiner Erhabenen Majestät Shah Jahan, des Tapferen Königs, dessen Aufenthaltsort nun das Sternenfirmament bildet. Er reiste in der achtundzwanzigsten Nacht des Monats Rahab im Jahre 1076 der Hegira von dieser vergänglichen Welt in die Welt der Ewigkeit.«
    Maggie Brown klappte den Reiseführer zu, worauf sie beide dem weißen Weltwunder des Taj Mahal den Rükken kehrten. Keiner war in der Stimmung, wunderschöne Architektur oder in makellosen Marmor eingelegte Edelsteine zu bewundern. Vor den Toren warteten die Bettler. Baedecker und das Mädchen schritten über den Schachbrettboden, lehnten sich auf das breite Geländer und sahen über den Fluß hinaus. Ein Monsunwolkenbruch hatte sämtliche Touristen bis auf die hartgesottensten vertrieben. Die Luft war so kühl wie während Baedeckers gesamtem Aufenthalt mit Temperaturen um die achtundzwanzig Grad. Die Sonne hielt sich hinter purpur-schwarzen Stratokumuluswolken im Westen versteckt, aber ein graues Licht hüllte die gesamte Szenerie ein. Der Fluß war breit und seicht und floß mit der ergreifenden Gelassenheit aller Flüsse überall auf der Welt.
    »Maggie, warum sind Sie Scott nach Indien gefolgt?« Sie sah zu Baedecker auf, vermied ein Achselzucken nur, indem sie die Schultern krümmte und eine Haarsträhne hinter das Ohr steckte. Sie sah blinzelnd über den Fluß, als suchte sie jemanden am gegenüberliegenden Ufer.
    »Ich bin nicht sicher. Wir kannten uns erst fünf Monate, bevor er beschlossen hatte, alles hinzuschmeißen und hierherzukommen. Ich mochte Scott ... immer noch ... aber manchmal

Weitere Kostenlose Bücher