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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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anderen Seite des Flusses. Es sollte ganz schwarz und durch eine anmutige Brücke mit dem Taj Mahal verbunden sein.«
    »Was ist passiert?«
    »Hmmm ... als Shah Jahan starb, hat sein Sohn ... Aurangzeb, offenbar einfach den Sarg seines Vaters neben den von Mumtaz Mahal gestellt und das Geld für andere Dinge verwendet.«
    Sie nickten beide. Als sie gingen, konnten sie den unheimlichen Ruf der Moslems zum Gebet hören. Baedekker drehte sich noch einmal um, bevor sie zum Haupttor hinaus gingen, aber er betrachtete nicht das Taj oder dessen blasses Spiegelbild in dem dunklen, reflektierenden Teich. Er sah über den Fluß hinweg zu einem gewaltigen ebenholzschwarzen Grabmal und einer schwindelerregenden Brücke, die es mit dem nahegelegenen Ufer verband.
    Der Mond hing am blassen Morgenhimmel über den Banyanbäumen. Baedecker stand mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Hotel und beobachtete, wie allmählich Passanten und Fahrzeuge die Straße bevölkerten. Als er Scott schließlich näherkommen sah, mußte er noch einmal hinsehen, um sich zu vergewissern, daß es tatsächlich Scott war. Das orangerote Gewand und die Sandalen schienen zu der langhaarigen, bärtigen Gestalt zu passen, aber Baedecker kam sie fremd vor. Er stellte fest, daß der Bart des Jungen, vor zwei Jahren noch ein kümmerlicher Flaum, jetzt dicht und mit roten Strähnen durchzogen war.
    Scott blieb einige Schritte entfernt stehen. Die beiden sahen einander eine ganze Weile an, bis es fast peinlich wurde, dann streckte Scott, dessen Zähne sich weiß von dem Bart abhoben, die Hand aus.
    »Hi, Dad.«
    »Scott.« Der Handschlag kam Baedecker fest, aber unbefriedigend vor. Plötzlich verspürte er ein Gefühl des Verlustes angesichts des Bilds eines siebenjährigen Jungen mit blauem T-Shirt und Bürstenschnitt, der mit Karacho aus dem Haus rannte und sich seinem Vater in die Arme warf.
    »Wie geht es dir, Dad?«
    »Gut. Sehr gut. Und dir? Sieht aus, als hättest du ziemlich abgenommen.«
    »Nur Fett. Ich habe mich nie besser gefühlt. Körperlich wie seelisch.«
    Baedecker wartete.
    »Wie geht es Mom?« fragte Scott.
    »Ich habe sie einige Monate nicht gesehen, aber kurz vor meiner Abreise angerufen, und da ging es ihr ausgezeichnet. Sie hat mich gebeten, dich für sie in den Arm zu nehmen. Und dir den Arm zu brechen, wenn du nicht versprichst, daß du öfter schreibst.«
    Der junge Mann zuckte die Achseln und machte eine Geste mit der rechten Hand, an die sich Baedecker noch von den Spielen der Jugendliga erinnern konnte, wenn Scott ins Aus geschlagen hatte. Baedecker streckte impulsiv die Hand aus und ergriff den Arm seines Sohns. Er fühlte sich dünn, aber kräftig unter dem weiten Gewand an.
    »Komm mit, Scott. Was meinst du dazu, daß wir irgendwo frühstücken gehen und uns einmal richtig aussprechen?«
    »Ich habe nicht viel Zeit, Dad. Der Meister beginnt seine erste Lektion um acht, bis dahin muß ich zurück sein. Ich fürchte, ich werde in den nächsten Tagen gar keine Freizeit haben. Unsere gesamte Gruppe befindet sich augenblicklich in einem echt empfindlichen Stadium. Es ist nicht viel erforderlich, das Lebensbewußtsein zu zerbrechen. Und das könnte mich in meinem Fortschritt um ein paar Monate zurückwerfen.«
    Baedecker schluckte die erste Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Er nickte verkniffen. »Nun, trotzdem haben wir Zeit für eine Tasse Kaffee, oder nicht?«
    »Klar.« Ein leiser Unterton von Zweifel klang in dem Wort mit.
    »Wohin? Wie wäre es mit der Cafeteria des Hotels? Scheint das einzige hier in der Gegend zu sein.«
    Scotts Lächeln war herablassend. »Meinetwegen. Gut.« Die Cafeteria war ein schattiges, offenes Gebilde, das an Garten und Pool angrenzte. Baedecker bestellte Brötchen und Kaffee und nahm aus dem Augenwinkel die Frau der >Niederen Klasse< wahr, die mit einer Handsichel den Rasen mähte. Unberührbare blieben auch im modernen Indien unberührbar, aber sie wurden nicht mehr so genannt. Eine indische Familie war zum Pool gekommen. Der Vater und sein kleiner Sohn waren unfaßbar übergewichtig. Sie sprangen immer wieder mit den Füßen voraus vom Einmeterbrett und spritzten Wasser auf den Gehweg. Mutter und Töchter saßen an einem Tisch und kicherten laut.
    Scotts Augen sahen tiefer und ernster aus, als Baedekker in Erinnerung hatte. Schon als Baby war Scott ernst gewesen. Jetzt sah der junge Mann müde aus, sein Atem ging flach und asthmatisch.
    Ihr Essen wurde gebracht. »Mmmm«, sagte

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