Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
erst aufhören sollte, als er einen Meter zweiundachtzig maß, vier Zentimeter mehr als sein Vater. Scott hatte sich in dem Jahr das rote Haar wachsen lassen, so daß es ihm bis auf die Schultern fiel. Baedecker gefiel es nicht er fand, der hagere Junge sah damit feminin aus -, und noch viel mehr mißfiel ihm die nervöse Angewohnheit seines Sohnes, das Haar ständig aus dem Gesicht zu schütteln, aber Baedecker fand das alles nicht wichtig genug, ein Aufhebens darum zu machen.
    Die Fahrt von Houston war heiß und ereignislos gewesen. Es war der erste Sommer von Joans Unzufriedenheit, glaubte Baedecker jedenfalls später, daher war er froh, daß er ein paar Wochen von ihr getrennt sein konnte. Joan hatte beschlossen, in Houston zu bleiben, weil sie mit verschiedenen Frauenorganisationen Abmachungen getroffen hatte. Baedecker hatte die NASA einen Monat zuvor verlassen und sollte seinen neuen Job bei der Flugzeugfirma in St. Louis im September anfangen. Es war sein erster Urlaub seit über zehn Jahren.
    Scott war alles andere als erfreut. In den ersten Tagen der Arbeit an der Blockhütte das Unterholz lichten, beschädigte Fenster auswechseln, Ziegel ersetzen und ganz allgemein den Zustand der Hütte aufzupolieren, die jahrelang leer gestanden hatte war Scott still und unverkennbar mürrisch gewesen. Baedecker hatte ein Transistorradio mitgebracht, und die Nachrichten brachten nichts anders als Berichte über Nixons bevorstehenden Rücktritt. Joan verfolgte die Watergate-Sache, seit vor einem Jahr die ersten Fernsehübertragungen der Anhörungen angefangen hatten. Zuerst mißfielen sie ihr, weil die Berichterstattung den Zeitplan ihrer Lieblingsseifenopern durcheinander brachte, aber bald fieberte sie ihnen entgegen, sah sich die abendlichen Wiederholungen im PBS an und sprach kaum mehr über etwas anderes mit Baedecker. Für ihn, der eine Fliegerlaufbahn beendete, die er seit seinem achtzehnten Lebensjahr verfolgte, schienen Nixons letzte Qualen unbeholfen und peinlich, sichtbare Zeichen einer in Auflösung begriffenen Gesellschaft, die er bereits voll Traurigkeit betrachtete.
    Bei der Blockhütte handelte es sich tatsächlich um ein eingeschossiges Holzhaus, das überhaupt nicht zu den Ranchhäusern aus Stein und Backstein und den neuen Holzlattenbauten passen wollte, die rings um den Stausee herum entstanden. Die Blockhütte stand inmitten von drei Morgen Waldwiese auf einem Hügel. Bergab befand sich eine schmale Bucht des Sees und ein kurzer Steg, den Baedeckers Vater in dem Sommer gebaut hatte, als Eisenhower wiedergewählt worden war. Baedeckers Eltern hatten daran gearbeitet, die Zimmer im ersten Stock fertigzustellen und eine Veranda an der Rückwand anzubauen, aber als er nach dem Tod seiner Frau dorthin zog, ließ Baedeckers Vater die Arbeit unvollendet.
    Baedecker und Scott rissen die verfaulten Überreste der angefangenen Veranda an dem Tag ab, als Nixon seinen Rücktritt bekanntgab. Baedecker erinnerte sich, wie sie an jenem Donnerstagabend vor der Blockhütte saßen, Hamburger aßen, die Scott gegrillt hatte, und die letzten Bekundungen von Selbstmitleid und Trotz des scheidenden Präsidenten hörten. Nixon endete mit dem Satz: »Während ich in diesem Amt gedient habe, verband mich eine persönliche Beziehung mit jedem einzelnen Amerikaner. Da ich es nun verlasse, möchte ich es mit einem Gebet tun: Möge Gottes Gnade Sie in allen kommenden Tagen begleiten.« Scott sagte sofort: »Zieh einfach Leine, du verlogener Arsch. Wir werden dich nicht vermissen.«
    »Scott!« bellte Baedecker. »Dieser Mann ist bis morgen mittag Präsident der Vereinigten Staaten. Ich werde nicht zulassen, daß du so über ihn sprichst!«
    Der Junge hatte den Mund aufgemacht, um zu antworten, aber in Baedeckers Befehl lagen zwei Jahrzehnte Drill des Marine-Korps, und so konnte Scott nur den Teller hinwerfen und mit roten Kopf davonlaufen. Baedecker saß allein im letzten Schein der Dämmerung über Arkansas und sah, wie das weiße Hemd seines Sohnes bergab Richtung Steg verschwand. Baedecker wußte, daß Scotts Verdrossenheit in den wenigen Tagen, die noch vor ihnen lagen, weiter zunehmen würde. Er wußte auch, daß Scotts Bemerkung, wenn auch unverblümter ausgesprochen, genau das beinhaltete, was Baedecker selbst über Nixons Abschied dachte. Baedecker hatte die Blockhütte angesehen und an das erste Mal gedacht, als er sie gesehen hatte das erste Mal, als er überhaupt in Arkansas war; er fuhr von Yuma, Arizona, direkt mit

Weitere Kostenlose Bücher