In der Schwebe
Ein Teil der großen Tafel war noch vorhanden, wurde aber mittlerweile von Bücherregalen mit Hunderten von Bänden eingerahmt. Hier und da standen einige wertvolle antike Möbel auf dem polierten Holzboden, ein kleiner Teil war mit einem Perserteppich und bequemen Plüschmöbeln abgegrenzt.
Im ersten Stock, der so hoch über dem Erdgeschoß lag wie ein normaler zweiter Stock, konnte Baedecker einen Blick in ein Arbeitszimmer voller Bücher hinter einer Schiebetür und in ein Schlafzimmer werfen, wo ein Einzelbett mit Baldachin einsam und verlassen inmitten von hundertachtzig Quadratmetern poliertem Holzboden stand. Zwei Katzen verschwanden rasch im Schatten, als sie die Schritte hörten. Baedecker folgte Dave eine schmiedeeiserne Wendeltreppe hinauf, die offensichtlich erst eingebaut worden war, nachdem das Gebäude als Schulhaus ausgedient hatte. Sie kamen durch eine Falltür in der Decke und standen plötzlich wieder im Licht auf etwas, das die Brücke eines großen Raddampfers hätte sein können.
Baedecker war so überrascht und fassungslos angesichts der Aussicht, daß er seine Aufmerksamkeit einige Sekunden lang nicht auf die ältere Dame lenken konnte, die ihn aus einem Korbsessel heraus anlächelte. Er sah sich um und versuchte erst gar nicht, seinen entzückten Gesichtsausdruck zu verbergen.
Das alte Dachgebälk der Schule war zu einer Glaskuppel von mindestens fünf mal fünf Metern ausgebaut worden, und selbst der Dachfirst war mit Oberlichtern verglast. Baedecker konnte an dem Licht erkennen, daß das Glas polarisiert sein mußte. Jetzt verstärkte es nur die ohnedies leuchtenden Farben von Himmel und Laub, aber er wußte, bei Tage würde das Glas von außen milchig sein, für einen Beobachter im Inneren dagegen erschienen alle Schattierungen klar und betont. Draußen verlief ein schmaler Witwensteig mit kunstvollem schmiedeeisernen Geländer entlang der Krone zweier Giebel vom Glockenstuhl aus nach Osten und Westen. Im Inneren standen mehrere Korbsessel, ein Tisch mit einem Teeservice und Sternenkarten darauf und ein antikes Messingteleskop auf einem hohen Stativ.
Aber die Aussicht erfüllte Baedecker am meisten mit Staunen. Von diesem Aussichtspunkt zwölf Meter über der Stadt konnte er über Dächer und Baumwipfel hinweg zu den Felswänden des Tals und den Vorgebirgen und dahinter bis zu den hohen Klippen sehen, wo Blökke uralten Sedimentgesteins aus dem Boden ragten wie Dornen aus brüchigem Stoff. Der polarisierte Himmel hatte einen solch dunklen Farbton, daß Baedecker an die seltenen Flüge oberhalb zweieinhalbtausend Meter Höhe denken mußte, bei denen die Sterne am Tage sichtbar werden und die kobaltblaue Krümmung des Himmels mit der Schwärze verschmilzt. Baedecker stellte fest, daß die Sterne jetzt tatsächlich sichtbar wurden, sie erschienen in Paaren und kleinen Gruppen am Himmel wie frühe Theaterbesucher, die nach den besten Plätzen suchen.
Eine Brise wehte durch die Fliegengitter tief unten an den Glaswänden, der Wind spielte mit den Seiten eines Buchs auf einer Sessellehne, und Baedecker schenkte seine Aufmerksamkeit endlich der Frau, die zu ihm emporlächelte.
»Miz Callahan«, sagte Dave, »Das ist Richard Baedekker. Richard, Miz Elizabeth Sterling Callahan.«
»Wie geht es Ihnen, Mr. Baedecker«, sagte die Frau und streckte die Hand aus, Handfläche nach unten.
Baedecker ergriff sie und sah die alte Dame genauer an. Zuerst hatte er den Eindruck gehabt, als habe er eine Frau Ende Sechzig vor sich, aber nun korrigierte er das Alter um mindestens ein Jahrzehnt nach oben, wahrscheinlich mehr. Doch trotz der Jahre besaß Elizabeth Sterling Callahan eine Schönheit, die zu tief saß, als daß die Zeit allein sie hätte besiegen können. Ihr Haar war weiß und kurz geschnitten, aber es stand wie elektrisiert von dem markanten Gesicht ab. Die Wangenknochen bildeten sich deutlich unter der von Sonne und Alter fleckig gewordenen Haut ab, aber die kleinen braunen Augen waren lebhaft und intelligent, das Lächeln immer noch bezaubernd.
»Ich bin hoch erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miz Callahan«, sagte Baedecker.
»Jeder Freund von Dave ist auch ein Freund von mir«, sagte sie, und Baedecker lächelte angesichts ihrer volltönenden, heiseren Stimme. »Bitte setzen Sie sich. Sable, sag unseren Freunden Hallo.«
Baedecker bemerkte zum ersten Mal, daß ein schwarzer Labrador sich im Schatten hinter dem Stuhl zusammengerollt hatte. Der Hund sah freudig auf, als Dave sich
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